Hannah Meul ist Deutschlands große Hoffnung für Paris 2024. Die Boulderin erklärt im Interview, wieso Abstürze für ihren Aufstieg wichtig sind, warum es für sie keine Fehlgriffe gibt – und sie im Alltag besser die Finger von großen Messern lässt
Die Allianz und ihre Agenturen fördern Sportveranstaltungen auf allen Ebenen – vom örtlichen Jugendturnier bis zum Spitzensport. Denn Gesundheit, Inklusion und Teamgeist liegen einem Versicherer am Herzen. Seit 2021 ist die Allianz auch weltweiter Partner der olympischen und paralympischen Bewegungen. Das Engagement ist auf acht Jahre ausgelegt und baut auf der seit 2006 bestehenden Zusammenarbeit mit der paralympischen Bewegung auf.
Zur Person
Name: Hannah Meul
Disziplin: Lead Klettern und Bouldern (combined format)
Jahrgang: 2001
Lebt in: Köln
Beruf: Berufssportlerin und Studentin Soziale Arbeit an der Technischen Hochschule Köln
Social Media: hannah_meul (Insta), www.hannahmeul.com (Homepage)
Heimatverein: DAV Sektion Rheinland Köln
Allianz Verbindung: Beim Lead Klettern wird das Risiko durch Absichern kalkulierbar. Das entspricht auch dem Grundgedanken der Versicherung. Ich bin Allianz Markenbotschafterin. Ich stehe zu diesem Prinzip und im Speziellen zur Allianz, die mich auch finanziell unterstützt.
Größte Erfolge: Im April 2023: Silbermedaille beim Hachioji-Weltcup in Japan, Saison 2022: zwei Silbermedaillen im Kletterweltcup und eine Silbermedaille im Bouldern bei der Klettereuropameisterschaft
Perspektive für Paris: Es gibt beim Klettern für die Olympiade weltweit nur 20 Startplätze. Das wird eine schwierige Qualifizierung, aber meine Chancen sind sehr realistisch
Mein größtes Vorbild: Sportlich gesehen Jan Hojer und grundsätzlich Pippi Langstrumpf mit ihrem Ansatz: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt, glaube an mich und bin stark. Stärker als andere von mir erwarten.
Meine bislang schlimmste Sportverletzung: Hatte ich zum Glück noch keine
Das bedeutet die olympische Idee für mich: Die eigene Leidenschaft und Liebe zu einer Sportart mit vielen Menschen teilen zu können und damit auch Teil von etwas Großem zu sein.
Frau Meul, wenn Sie vor einer Felswand stehen, was sehen Sie da?
Ein normaler Spaziergänger denkt vielleicht: »Hier geht es nicht weiter«. Ich sehe, wohin der Weg führen kann – nach oben. Ich betrachte den Felsen unter dem Aspekt, wie ich am besten hochkommen würde. Für viele andere ist der Felsen wahrscheinlich nur ein großer Stein. Für mich ist er ein Kunstwerk, an dem ich mich beim Klettern selber spüren kann. Denn ich sehe meine Art zu klettern als besonderen Ausdruck meiner Persönlichkeit.
Wie erkennt man eine gute Route, wenn man noch am Boden steht?
Das Routenlesen kann man lernen. Man versucht sich vor seinem inneren Auge vorzustellen, wie man klettert. Gibt es Strukturen zu fassen wie Wandkanten, Einkerbungen, Risse oder Vorsprünge? Jeder Kletterer hat da andere Stärken und Vorlieben und sieht deshalb eine Wand auch mit anderen Augen. Ich liebe beispielsweise eher flache Boulder, bei denen es auf Technik und Körpergefühl ankommt. Andere bevorzugen ausgeprägte Boulder, bei denen man viel Oberkörperpower mitbringen muss. Es gibt viele Wege, die zum Top-Griff führen. Das ist das Spannende.
Bouldern steht für eine Form des Freikletterns ohne Seil und Gurt – ob draußen am Felsen oder in der Halle. Was fasziniert Sie an dieser Disziplin des Sportkletterns?
Es ist diese unglaubliche Vielfalt an Bewegungen. Jede Boulderstrecke ist anders und lässt verschiedene Lösungen zu. Und es gibt dieses Überraschungsmoment, in dem man über sich hinauswachsen kann. Ich lese zum Beispiel vorab den Boulder und merke mir, wo ich springen muss. An der Stelle angekommen, spüre ich aber, dass ich besser einen Spagat machen sollte. Das ist möglich und ich freue mich sehr, in so einem Moment für mich einen anderen, noch besseren Weg gefunden zu haben als anfänglich gedacht.
Klettern hat Ihr Herz erobert, hätte es auch eine andere Sportart sein können?
Ich habe früher schon auch andere Sportarten gemacht wie Ballett und Leichtathletik. Als meine Schwester dann einmal zu einem Kindergeburtstag im Kletterpark eingeladen war, habe ich es einfach mal ausprobiert. Mit sieben Jahren habe ich dann bei einer Kindergruppe angefangen. Die Kletterhalle wurde schnell zu meinem Lieblingsspielplatz und meinem zweiten Zuhause. Ich wusste, ich möchte Profikletterin werden. Beim Klettern erlebe ich die natürlichste Art und Weise, mich fortzubewegen. Die Liebe zum Klettern ist immer weitergewachsen. Wächst noch.
»Beim Klettern erlebe ich die natürlichste Art und Weise, mich fortzubewegen.«
Hannah Meul
Worauf kommt es an: Kraft oder Fingerspitzengefühl?
Auf beides zu gleichen Teilen. Natürlich braucht man eine gewisse Kraft, um in einem Moment an der Wand sich auch die Zeit nehmen zu können, die Intuition oder das Fingerspitzengefühl spielen zu lassen. Es gewinnt nicht automatisch der physisch Stärkste. Es ist wichtig, ganz viel Technik, Fingerspitzengefühl und Balance ins Klettern zu integrieren. Außerdem ist sehr viel Verstand nötig, weil es immer wieder neue Herausforderungen gibt.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie abrutschen? Ist da mehr Wut oder Angst?
Der Augenblick, in dem ich falle, ist natürlich nicht schön, denn ich will immer oben ankommen. Mein Ziel ist es, im Wettkampf mein Bestes geben zu können. Wenn ich abrutsche, ärgert mich das und es kann mir schon ein Weilchen nachhängen. Aber grundsätzlich bin ich ein Fan davon, nach vorne zu schauen. Ich gebe dem Gefühl zwar Raum, eine Stunde vielleicht, wenn es mir wirklich viel bedeutet hat auch einen Tag. Die Kunst dabei ist, die Emotion wahrzunehmen, zuzulassen und gestärkt daraus hervorzugehen. Meistens ist das Fallen die größte Motivation für mich, wieder einzusteigen, um es nochmal zu versuchen.
Und wie ist es mit der Angst?
Es sind immer dicke Weichbodenmatten da – nicht nur im Training. Ich fühle mich sicher.Während eines Wettkampfs denke ich nicht ans Scheitern. Ich möchte nach oben kommen, da ist für solche Gedanken kein Platz. Im Training dagegen schon. Das besteht zu 99 Prozent aus Fallen und meine Sichtweise darauf hat sich geändert. Natürlich ist es ein Risiko, aber eines, an dem ich wachsen kann. Also, wenn ich falle, weiß ich, dass es noch etwas für mich zu lernen gibt. Was mich wiederum motiviert. Ich bringe darin auch eine jahrelange Erfahrung mit. Ich weiß, wie man richtig fällt.
Sie sind also Profi im Fallen. Wie macht man das richtig?
Es gibt ein paar Grundregeln, die man verinnerlichen muss: Nicht auf dem ausgestreckten Arm landen, zum Beispiel. Das ist der größte Fehler, den man machen kann. Es ist immer günstiger, sich über den Rücken abzurollen. Und wenn man oben an der Absprungkante angekommen ist, sollte man nicht runterspringen, sondern runterklettern.
»Mir ist bewusst, dass ich nur über mich hinauswachsen kann, wenn ich Raum zum Scheitern lasse.«
Hannah Meul
Bouldern erfolgt ohne Seil und Gurt – sind Sie im Leben auch sonst eher lieber ohne Sicherung unterwegs?
Ich gehe immer mit offenen Augen durchs Leben. Mir ist aber auch bewusst, dass ich nur über mich hinauswachsen kann, wenn ich auch Raum zum Scheitern lasse. Ich mag es, nicht immer alles bis zum Äußersten zu planen, sondern mir Freiheiten zu lassen und Raum für Intuition. Ich lebe sehr im Moment.
Abstürzen und sich wieder Abfangen ohne Verletzung – das kennen Sie nur zu gut. Gibt es trotzdem Bereiche, in denen das nicht so gut funktioniert?
Mir passieren durchaus sehr tollpatschige Dinge. Ich fahre zum Beispiel zu weit mit der Bahn und verpasse meine Haltestelle. Das passiert mir sogar recht oft. Oder dass ich in die falsche Bahn einsteige, selbst wenn ich mich vor Ort auskenne. Das passiert mir, weil ich in meiner eigenen Welt lebe.
Wo sind Sie dann mit Ihren Gedanken?
Ich träume. Ich bin vor allem bei mir selber. Ich glaube, das ist auch das, was mir beim Klettern so sehr hilft. Ich kann beim Bouldern bei mir sein und dabei meiner Kreativität freien Lauf lassen. So geht es mir auch beim Backen und Kochen. Das kann ich wirklich sehr gut. Meine Geschicklichkeit währenddessen ist allerdings nicht so besonders. Aber was im Alltag vielleicht als tollpatschig angesehen wird, sehe ich als Geschenk. Ich glaube, dass es heute nur ganz wenigen Menschen gelingt, so richtig bei sich selbst zu sein. Viele sind schon beim nächsten Termin, denken daran, was sonst noch im Kalender steht.
Man sagt, die meisten Unfälle passieren im Haushalt …
Das würde ich auch mir zuschreiben. Der Haushalt ist für mich gefährlicher als die Boulderwand. Küchenmesser: ein ganz heikles Thema. Ich habe mich leider schon öfter mit dem Messer in den Finger geschnitten. Das ist natürlich nicht gut, denn meine Finger sind meine Werkzeuge beim Klettern. Einmal war der Schnitt so arg, dass ich fast zwei Monate lang mit abgespreiztem Zeigefinger klettern musste, weil ich mit ihm nicht greifen konnte. Seitdem vermeide ich große Messer.
Sie wohnen in Köln. Verstehen Sie es, richtig zu feiern? Wie hoch ist Ihre Absturzgefahr, wenn Sie Doppel-Olympiasiegerin würden und danach im deutschen Haus darauf anstoßen?
Während der Saison trinke ich keinen Alkohol. Nach dem Wettkampf wird aber gefeiert. Ich bin Kölnerin und ich weiß, wie das geht. Da gönne ich mir Spaß und verzichte auch auf nichts. Aber wenn man Alkohol nicht gewohnt ist, verträgt man nicht viel. Ich bin mir dieses Risikos bewusst und schlage deshalb auch nicht über die Stränge. Am liebsten mag ich übrigens Aperol Spritz.
Was war Ihr letzter richtiger Fehlgriff?
Ich bin immer ziemlich überzeugt von dem, was ich mache. Als Leistungssportlerin habe ich zudem gelernt, Betrachtungsweisen zu drehen und anders zu bewerten. Deshalb kann ich mir alles schönreden. Fehlgriffe gibt es so gesehen nicht. Ich mache immer das Beste draus.
Wie gehen Sie als Studentin mit der Absturzgefahr bei Prüfungen um? Sind Sie der Typ »Mut zur Lücke«?
Ich bin der Lerntyp. War ich auch schon in der Schule. Wenn ich mir sicher war, genug gelernt zu haben, bin ich mit einem guten Gefühl zur Prüfung gegangen. Wenn es dann mal nicht so geklappt hat, konnte ich immer mit gutem Gewissen sagen: Ich bin auch nur ein Mensch und mache Fehler, aber ich habe das mir Mögliche dafür getan.
Sie studieren Soziale Arbeit. In diesem Bereich trifft man auch auf Menschen, mit denen das Schicksal es nicht immer gut gemeint hat. Wie gehen Sie damit um?
Ich liebe es, Menschen zu helfen und Lösungen zu finden – nicht nur beim Klettern, auch im Alltag. Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch zu einem Ziel kommen kann. Spannend ist, wie der Weg dorthin aussieht. Beim Klettern auf dem Treppchen zu stehen oder im Job erfolgreich zu sein – das ist es nicht allein. Es ist auch der Weg dorthin
»Nervenkitzel ermöglicht mir im Wettkampf, immer wieder mein volles Potenzial zu entfalten.«
Hannah Meul
Welche Rolle spielt Nervenkitzel für Sie?
Eine große. Ich habe es gerne, wenn ich Nervenkitzel spüre. Es ermöglicht mir im Wettkampf, immer wieder mein volles Potenzial zu entfalten. Da bin ich nochmal ganz anders fokussiert und motiviert.
Wie real ist Ihr Traum von Olympia?
Sehr real. Und er ist die größte Motivation in meinem Training – der Grund, immer Vollgas zu geben, jeden Morgen mit neuer Energie aufzustehen und auch jeden kleinen Schritt in diese Richtung zu genießen.
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Interview Petra Benesch
Fotos Mammut, imago images/Chai v.d. Laage