Sehen Sie im Video: Mit dem E-Motorrad um die Welt
An diesem Morgen in Hamburg ist alles anders. Obwohl ich wieder auf Reisen gehe, muss ich nicht einmal an meinen Pass denken. Als ich vor ein paar Jahren zu meiner ersten Weltreise aufbrach, begleitete mich dagegen ständig dieses Gefühl: Immer wenn ich einen Ort endgültig verließ, war ich überzeugt davon, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe. Heute soll es in nur zwei Tagen von England über Kamerun und Kalifornien bis nach Brasilien gehen. Aber Landesgrenzen werde ich keine überschreiten. Denn all diese Orte befinden sich in Deutschland. Und meine Begleitung ist kein schnurrender Verbrennungsmotor, sondern ein Motorrad von Zero Motorcycles, einer kalifornischen Marke, die seit 16 Jahren E-Motorräder herstellt.
Als ich die Maschine starte, tut sich trotz leuchtendem Display – nichts. Kein lautes Röhren oder stotterndes Rattern. Stille. Dann drehe ich versuchshalber am Gasdrehgriff, und mit einem leisen Surren springt die Maschine nach vorne. Fast lautlos reihe ich mich in den brummenden Verkehr der morgendlichen Hamburger Rushhour in Richtung Autobahn ein. Mein Ziel: Nordfriesland. Schon absurd, denke ich mir in diesem Moment. Ich habe mit dem Motorrad die Welt umrundet, aber das dritte Dorf hinter der eigenen Stadt ist mir vollkommen fremd.
»Wenn es nicht weitergeht: anhalten, durchatmen und die Umgebung erkunden, bis alles vorbei ist«
Lea Rieck, Autorin
Es gibt viele Fragen, die ich einem Herrscher der Welt gerne stellen würde. Auf der Halbinsel Eiderstedt an der Nordsee, 130 Kilometer nördlich von Hamburg, bekomme ich endlich meine Chance. Ich treffe den Herrscher, Pardon, den Bürgermeister der kleinen 200-Einwohner-Gemeinde mit dem großen Namen »Welt«. Aber anstatt mit Dirk Lautenschläger über die Probleme der Erde zu sprechen, muss ich ihn zunächst um Strom anschnorren. Den bekomme ich an der Feuerwehrstation. Normalerweise habe ich auf Reisen mit dem Motorrad vier Ersatzkanister mit insgesamt neun Litern Benzin dabei. Damit komme ich im Notfall ungefähr 200 Kilometer weit. Diesmal habe ich lediglich zwei Ladekabel mit. Eines davon schließe ich bei der Feuerwehrstation an eine herkömmliche Steckdose an, bevor Dirk Lautenschläger und ich einmal um die Welt spazieren.
Hier geht es sehr beschaulich zu. Ein Gasthof, ein Café und eine 900 Jahre alte Kirche. Rekordverdächtige 30 Minuten brauchen wir, um das Dorf zu umrunden. Auf meiner ersten Reise um die Erde fuhr ich 90.000 Kilometer, die kleine Gemeinde mit dem imposanten Namen hat ein Straßennetz von insgesamt 18 Kilometern.
Mit meiner Motorrad-Sicherheitskleidung oute ich mich aber auch hier als Reisende. Auf der Hauptstraße hält ein Auto neben uns, und ein Mann streckt den Kopf aus dem Fenster heraus. Auf Weltreise mit dem E-Motorrad? Super! Falls der Spaziergang mit dem Herrn Bürgermeister nicht zu lange dauert, würde er mich sehr gerne in sein Atelier einladen. Ganz einfach zu finden: hinter der Kirche, das letzte Haus links.
Zurück an der Feuerwehrstation wird die Kürze der Weltumrundung zum Problem: Die Batterie meines E-Motorrads hat sich gerade einmal von fünf auf 23 Prozent erholt. Also erinnere ich mich an eine der wichtigsten Lektionen, die ich auf meinen bisherigen Reisen gelernt habe: Wenn es nicht weitergeht, weil gerade ein Militär putscht, sintflutartiger Regen die Straßen weggespült hat oder eben der Ladezustand des E-Motorrads kritisch ist: anhalten, durchatmen und die Umgebung erkunden, bis alles vorbei ist.
Gesagt, getan: Fünf Minuten später stehe ich im Atelier Rungholt des Künstlers Wolfgang Gross-Freytag. Das Motorrad stillt seinen Durst nach Strom an einer Außensteckdose vor einer Hausfassade mit blauen Pferdemalereien. Auf einer Koppel traben fröhlich echte Islandpferde, als wären sie gerade dem Gemälde entsprungen. In seinem Atelier zeigt mir Wolfgang Gross-Freytag seine Serie »Das Lachen der Welt«. Von einer farbenfrohen Leinwand strahlt uns ein faltiges Damengesicht an. »Wissen Sie, uns würde es allen besser gehen, wenn wir mehr lachten. Wenn wir einen Fokus auf das Gute hätten anstatt auf das Schlechte. Es kommt doch immer auf die Perspektive an. Mein Atelier zum Beispiel: Es liegt am Ende der Gemeinde Welt – oder am Anfang.«
Man könnte annehmen, dass die Reise vorbei ist, wenn man ein Ende der Welt erreicht. Auch auf meiner großen Reise steckte ich irgendwann in einer ähnlichen Bredouille: Als ich in Ushuaia in Argentinien angekommen war, der südlichsten Stadt der Erde und selbst erklärtem Ende der Welt, hatte ich gerade erst mit der Durchquerung des amerikanischen Kontinents begonnen. Wer an einem echten Endpunkt ankommt, kann einfach die Richtung wechseln und wieder mitten ins Geschehen hineinfahren. Vom südlichsten Punkt reiste ich bis in den höchsten Norden nach Kanada. Also breche ich auch vom eiderstedtschen Ende der Welt in Richtung Norden auf. 50 Kilometer bis zur nächsten Halbinsel.
»Ich habe zwar die Welt umrundet, kenne aber viele Orte in Deutschland kaum«
Für mich gehört zu einer echten Reise auch, dass ich die landestypischen Spezialitäten koste. Hammelhoden in Kirgistan, geröstete Grillen in Myanmar, Schafshirn in der Türkei. Das Dorf England auf Nordstrand inmitten des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer entpuppt sich zu meiner großen Freude als echter kulinarischer Höhepunkt. Zwischen traditionellen Häusern mit Reetdächern stellt Familie Scheler auf dem Pharisäerhof in der MUKU Eismanufaktur seit 1949 Eisspezialitäten her, und die deutsche Version von Fish & Chips hat André Wilckerling vom »Hotel-Restaurant England« erfunden. Den Namen seines berühmtesten Gerichts, der »Sandscholle«, hat er sich sogar patentieren lassen. Sowieso ist in England richtig viel los: Gerade besteigt eine Reisegruppe ihren Bus. Ob die etwa alle wegen der berühmten Sandscholle hier sind? André Wilckerling zuckt bescheiden mit den Schultern. Dann erzählt er, dass die Queen selbst zwar noch nicht im deutschen England war, dafür aber deutscher Politik-Adel: Angela Merkel. Was sie bestellt habe? »Das weiß ich nicht mehr genau. Aber ja, sicher auch die Sandscholle!« Das Dorf hat seinen Namen übrigens nicht von Fish & Chips. Die Einwohner vermuten, dass der Ort zunächst als »Enges Land« bezeichnet wurde – und daraus einfach England wurde.
Bei Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 war ich gerade dabei, den afrikanischen Kontinent zu umrunden. Doch kurz vor der nigerianischen Grenze beendete Corona meine Tour. Deswegen bin ich hellauf begeistert, als ich das Schild einer Siedlung bei Emkendorf, 30 Minuten von Kiel entfernt, am Straßenrand sehe. »Kamerun« steht da gelb auf grün. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich so weit gekommen.
Beflügelt fahre ich die einzige Straße entlang. Und traue meinen Augen nicht: Hinter einer Hecke sehe ich das Hinterteil eines Zebras. Aber Moment: Zebras gibt es doch weder im afrikanischen Kamerun und schon gar nicht in Deutschland! Beim Näherkommen erkenne ich, dass das vermeintliche Zebra an Zaumzeug und Zügel geführt wird. Es ist ein Pferd – das einen Überwurf mit schwarz-weißen Streifen trägt. »Das Muster hält Mücken und Bremsen ab«, erklärt Michael Schleen, der seit 2008 gemeinsam mit seiner Frau den Reitstall »Mohnblume« in Kamerun führt. Warum er ausgerechnet von Hamburg hierher ausgewandert ist? »In Kamerun ist die Natur so idyllisch. Die weiten Felder und hinter den Bäumen ein großes Moor.« Wirklich wilde Tiere gibt es hier auch, man muss allerdings ein bisschen genauer hinschauen. Dann entdeckt man zum Beispiel Schwalben, die im Stall nisten. »Die Vögel sind ein gutes Zeichen. Sie reagieren sehr sensibel auf Luftveränderungen und Umweltverschmutzung. Ich kann mir einen Hof ohne Schwalben nicht vorstellen.« Bei aller Idylle hat Kamerun trotzdem ein Problem: Gerade zu großen Fußballevents wird das Schild der Siedlung in Grün-Gelb, der Farbe des Nationalteams von Kamerun, als Souvenir geklaut. »Jetzt wurde es festgeschraubt. Seitdem kommt das nicht mehr so oft vor«, sagt Schleen.
Das E-Motorrad und ich sind inzwischen ziemlich beste Freunde. Es beschleunigt so stark, dass ich selig grinse. Meine neue App mit allen E-Ladestationen habe ich genau einmal benutzt. Denn durch das Fragen nach Steckdosen bekomme ich den Kontakt zu den Einheimischen gratis dazu.
»Man kann das Große, Weite und Ferne auch in Deutschland finden«
30 Kilometer östlich von Kiel steuere ich das letzte Etappenziel meiner Deutschland-Weltreise an: Kalifornien. Der berühmte U.S. Highway 1 im Staat Kalifornien schlängelt sich entlang zwischen Los Angeles und San Francisco mit atemberaubenden Aussichten an den Klippen direkt über dem Meer. Angekommen an der Strandpromenade in Kalifornien bei Schönberg, stellt sich die Lage anders dar. Die Aussicht aufs Meer suche ich vergebens. Also runter vom Motorrad, rauf auf den Deich. Belohnt werde ich mit einem Ausblick, den ich nicht mal im amerikanischen Kalifornien hatte. Im Osten kann ich bis nach Brasilien schauen. Richtig gelesen! In Schleswig-Holstein liegt Brasilien nämlich gleich neben Kalifornien. Der Legende nach hat ein Fischer einst nahe seiner Hütte eine morsche Schiffsplanke im Sand gefunden, auf der »California« geschrieben stand. Er nagelte das Holz an seine Haustür. Ein anderer Fischer, der etwas weiter östlich am Strand wohnte, bastelte daraufhin nach dem Motto »Was du kannst, kann ich schon lange« sein eigenes Schild und hängte es auf: Das deutsche Brasilien an der Ostsee war geboren.
Wie könnte es anders sein: In Brasilien steht Surfen ganz oben auf meiner To-do-Liste. Leider bescheren die Wolken mir einen Monsun. Nur, dass es für einen tropischen Regen mindestens 15 Grad zu kalt ist. Bo Roosch, der die Surfschule »Wassersport Brasilien« leitet, macht dieses Wetter nichts aus. Auch sein Hund Benji hüpft unbekümmert ins Wasser, um unermüdlich ein Quietscheding in Leuchtturmform zu apportieren. Bo lebt mit seinem Hund während der Surfsaison in seinem Kleinbus hinter den Dünen. Nur im Winter nicht, da wird es zu kalt. »Klar gibt es Tage wie heute auch hier in Brasilien. Es regnet, stürmt, und die Strömung ist zu stark. Aber trotzdem ist es schön. Ich mag auch dieses Wetter.«
Gemeinsam schauen wir auf den Horizont. Dorthin, wo der dunkle Himmel auf das aufgewühlte Meer trifft. In dem Moment merke ich, dass man das Große, Weite und Ferne auch im Kleinen, in Deutschland finden kann. Und überhaupt ist es hier wie überall auf der Welt: Nur wer anhält und sich Zeit nimmt, entlockt den Orten die Geheimnisse, die den Vorbeieilenden für immer verborgen bleiben.
Fotos Melina Mörsdorf
Text Lea Rieck