Klingt harmlos, endet aber oft tödlich: der Sekundenschlaf. Die Experten Jörg Kubitzki und Roland Popp erklären das einzige Mittel, das dagegen wirkt. Spoiler: Es ist etwas, das im Bett passieren sollte
Herr Popp, Herr Kubitzki, ich bin mit dem Auto da. Wie viel Prozent der Verkehrsteilnehmer waren auf dem Weg wohl zu müde zum Fahren?
Dr. Roland Popp: Das ist sehr schwer zu beurteilen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen gibt es keine wirklich verlässlichen statistischen Daten. Zweitens gibt es keine objektiv messbaren Kriterien, wie etwa beim Alkoholmissbrauch, nach denen man objektiv beurteilen könnte, ob oder gar wie sehr jemand zu müde zum Autofahren ist. Aber nach einer Untersuchung unseres Schlafmedizinischen Zentrums kann ein Viertel aller tödlichen Unfälle auf bayerischen Autobahnen mit Schläfrigkeit in Verbindung gebracht werden!
Dr. Jörg Kubitzki: Nach einer Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrates geben 30 Prozent der Autofahrer an, dass sie hin und wieder eigentlich zu müde sind, um Auto zu fahren. Aber daraus lässt sich nicht ableiten, wie viele von 100 Autofahrern zu einem gegebenen Zeitpunkt x eigentlich gerade nicht fahren sollten – das ist eine Wunschfrage. Sicher existieren Müdigkeitsstatistiken, zum Beispiel in den amtlich erfassten Unfallursachen, auch das Allianz Zentrum für Technik hat eine eigene Auswertung. Aber für alle gilt: Mehr als Hinweise lassen sich selten ermitteln. Müdigkeit als Hauptursache ist kaum zu belegen.
»Ein Viertel aller tödlichen Unfälle auf bayerischen Autobahnen kann mit Schläfrigkeit in Verbindung gebracht werden«
Dr. Roland Popp, Psychologe und Somnologe
Wie lange dauert eigentlich der Sekundenschlaf?
Popp: Wir Schlafmediziner sprechen von sogenannten Mikroschlafepisoden, die wir zum Beispiel in unserem Schlaflabor per EEG überwachen. Die können ganz kurz sein – aber leicht auch mal 10, 15 Sekunden oder gar länger dauern. Dabei müssen übrigens die Augen nicht unbedingt geschlossen sein, der Zustand der Schläfrigkeit oder Müdigkeit sieht bei jedem Menschen anders aus.
Kubitzki: Der Begriff des Sekundenschlafs suggeriert für manche: “Die Gefahr dauert ja nicht lange.” Aber ab einer gewissen Müdigkeit ist einfach die Fahrtüchtigkeit insgesamt nicht mehr gegeben! Und wenn man ein, zwei Sekunden einnickt, sind die Minuten davor und danach auch gefährlich oder im Grunde die ganze Fahrt.
Ich muss gestehen, dass ich im Handschuhfach immer eine Dose Energydrink habe. Bringt die was?
Kubitzki: Wenn Sie sich fragen, was Sie dagegen machen können, wenn Sie auf der Fahrt müde werden, ist ehrlich gesagt schon etwas schief gelaufen. Das gilt auch, wenn Sie sich auf technische Systeme verlassen – es sind bestenfalls Notlösungen.
Popp: Das beste Mittel gegen Müdigkeit ist tatsächlich Schlaf – aber eben bitte nicht am Steuer, sondern auf dem Rastplatz. Ein, wie die Schweizer sagen, Turboschlaf von 20 oder 30 Minuten hilft wirklich. Aber nicht länger, sonst fährt der Kreislauf herunter, und Sie kommen in tiefere Schlafstadien. Wenn Sie vor dem Nickerchen noch ein, zwei Kaffees trinken, dann verstärkt das sogar dessen Wirkung. Denn so lange braucht das Koffein, bis es im Blut ankommt.
Radio laut, Fenster runter …
Popp: Nützt beides nichts, das hat man im Fahrsimulator und bei Echtfahrten untersucht. Im Gegenteil: Wenn Sie sich subjektiv bei lauter Musik oder kühlerer Luft wacher fühlen – was aber objektiv nicht stimmt –, dann unterschätzen Sie den Grad Ihrer Schläfrigkeit auch noch.
Autohersteller bieten ja Warn- oder Korrekturvorrichtungen gegen Sekundenschlaf an. Hilft das?
Kubitzki: Es ist ein Widerspruch in sich, wenn ich von einem Fahrzeug erwarte, dass es mich zuverlässig davor warnt, ein Fahrzeug zu führen! Kein System kann den Moment des tatsächlichen Wegnickens vorhersehen. Man kann über Parameter wie zum Beispiel das Lenkverhalten oder Spurmessungen charakteristische Veränderungsbilder erkennen und dann davor warnen, und das machen die unterschiedlichen Systeme der Automobilhersteller zur Fahrerzustandserkennung ja auch. Aber inwiefern all das wirklich geeignet ist, die Zahl der müdigkeitsbegründeten Unfälle zu verringern, dazu fehlen uns die entsprechenden Daten. Solange die fehlen, sind die Assistenzsysteme ein recht pragmatischer Ansatz, die Spurverlassens- oder Abstandswarner, die Notbremssysteme und andere. Aber nochmal: Das sind für Müdigkeitsfehler bestenfalls Notlösungen!
Popp: Die Müdigkeitssysteme gehen von globalen Müdigkeitsanzeichen aus. Aber es gibt da von Fahrer zu Fahrer deutliche Unterschiede. Die Müdigkeit wirkt sich auf das Fahrverhalten, auf den Augenlidschluss etc. zu unterschiedlich aus, um daran etwas Allgemeingültiges festzumachen.
Jeder ist quasi auf seine eigene Weise schläfrig?
Popp: Genau. Deshalb sind unterschiedliche Maßnahmen wichtig, um der Gefahr von Müdigkeit am Steuer zu begegnen. Zum Beispiel die »Rumble Stripes« oder Rüttelstreifen, die durch Vibration oder Töne darauf hinweisen, wenn jemand über Mittel- und Seitenstreifen hinausfährt. Und es bräuchte ausreichend Rast- und Parkplätze. LKW-Fahrer, die merken, dass sie müde sind, finden häufig gar keinen Platz für eine Pause, weil die Plätze überfüllt sind. Eine andere Möglichkeit wären architektonische oder farbliche Gestaltungsmaßnahmen auf besonders monotonen Streckenabschnitten, damit es quasi immer wieder ein bisschen was zu sehen gibt. Am wichtigsten wäre allerdings, dass sich vor allem Menschen mit chronischen Ermüdungserscheinungen untersuchen und behandeln lassen!
Können wir dann wenigstens auf das Google-Auto hoffen? Da wird es ja hoffentlich immer genug zu sehen geben.
Kubitzki: Seitens der Unfallforschung habe ich da gemischte Gefühle: Gerade automatisiertes Fahren birgt die Gefahr der Unterforderung und somit Müdigkeit und verleitet daher auch zu überzogener Ablenkung. Die Fahrer haben weiterhin Fahrerpflichten, müssen weiterhin Gefahren erkennen können. Für Lkw-Fahrer ist die automatisierte Fahrt Dienst. Müssen sie in dieser Zeit andere dienstliche Aufgaben erledigen? Würden sich Lenkzeiten wieder verlängern? Weil der Fahrer juristisch Fahrer bleibt, ist Schlafen beim automatisierten Fahren übrigens nicht vorgesehen, es gelten weiter die Kriterien für Fahrtüchtigkeit. Etwas anderes ist die autonome Fahrt im Shuttle, wo der Fahrer nur Fahrgast ist
Popp: Auch der Flugzeugpilot im Cockpit muss ja jederzeit eingreifen und reagieren können, selbst wenn das Flugzeug vom Autopiloten gesteuert wird. Wenn ich allerdings eingenickt war im Auto, dann dauert es möglicherweise viel zu lange, bis ich aus dem Zustand der sogenannten Schlaftrunkenheit heraus wieder wirklich reaktionsfähig bin.
»Es ist ein Widerspruch in sich, wenn ich von einem Fahrzeug erwarte, dass es mich zuverlässig davor warnt, ein Fahrzeug zu führen«
Dr. Kubitzki, Unfallforscher
Wenn ich nach unserem Gespräch wieder auf der Autobahn nach Hause fahre, wie viel Prozent meiner Mitfahrer im Verkehr sind überhaupt hellwach?
Kubitzki: Das Nachmittagstief müsste eigentlich schon vorbei sein – aber ich würde dafür meine Hand nicht ins Feuer legen …
Popp: Es hängt ja auch immer davon ab, wie viel Schlaf die Leute im Laufe der Woche bekommen haben. Am Ende der Arbeitswoche, sehr gut zu sehen zum Beispiel in der U-Bahn in Japan, baut sich ein zusätzlicher Schlafdruck auf. Aber heute ist ja Mittwoch, es ist es ja noch nicht Wochenende…
Kubitzki: Seit Jahrzehnten hat das gesamte Unfallgeschehen über den Tag verteilt zwei Spitzen: einmal, wenn die Menschen zur Arbeit fahren, und dann wieder, wenn sie von der Arbeit kommen. Wenn wir Feierabend haben nach diesem Gespräch und nach Hause fahren, ist unsere Verunfallungswahrscheinlichkeit erhöht. Aber wenn wir noch bis 19 Uhr in der Cafeteria warten, dann lässt der Heimreisestau wieder nach – das Unfallrisiko sinkt.
Mal ehrlich: Was haben Sie als Männer vom Fach für Rezepte gegen den Sekundenschlaf?
Kubitzki: Zum Glück war ich selbst nie in der Situation, dass ich auf eine lange Autofahrt angewiesen war oder spürte, nicht fahrtüchtig zu sein. Aber ich lege lieber mehr Rastpausen ein als weniger, auch wenn ich meine, ich bräuchte sie nicht.
Popp: Mein Rezept für mich, wenn’s mal länger und später wird: kurze Nickerchen zwischendurch und grüner Tee aus der Thermosflasche.
Text Christian Thiele
Illustration Niklas Hughes