06.11.2024

Pulli statt Sondermüll

Mit ihrem Unternehmen mährle hat es Dagmar Fresenius geschafft, Garne nachhaltig, artgerecht und regional zu produzieren. Dabei ist es der Hobbyhäklerin auch gelungen, aus dem Abfallprodukt »deutsche Wolle« wieder ein gefragtes Gut zu machen.

Zur Person

Dagmar Fresenius, geboren 1974, war Angestellte im Vergütungsmanagement. 2019 nahm sie ein Sabbatical, um sich auf die Suche nach der heimischen Wolle zu machen. Daraus entstand ihr Unternehmen mährle.

Dagmar Fresenius sitzt in ihrem Showroom im badischen Gottmadingen auf einem Kissen und knautscht die Wolle in ihren Händen. Sie fühlt sich fest und wärmend an. Doch was ist das? Etwas piekst. In dem blauen Knäuel steckt Stroh. Die Gründerin von mährle schmunzelt. »Meine Kundinnen lieben das, wenn sie manchmal ein Stück Stroh in meiner Wolle finden«, erklärt sie. Für sie ist das ein echtes Qualitätsmerkmal. Das Stroh beweist, dass ihre Garne nachhaltig und schonend gereinigt wurden. Ihre Wolle ist nicht mit Schwefelsäure bearbeitet, in der Fachsprache Karbonisierung genannt. In der industriellen Fertigung werden natürliche Relikte oft mit viel Chemie und Energie beseitigt.

Mit ihrem Unternehmen hat sich die 50-Jährige darauf spezialisiert, Wolle von deutschen Schafen nachhaltig und artgerecht herzustellen. Damit hat sie erfolgreich eine Nische in einer Branche geschaffen, die von ausländischen Großproduzenten dominiert wird. Herkömmlich zu kaufende Wolle kommt meist aus Australien, oft von Merinoschafen, die aufgrund des milden Klimas ein weiches Fell haben. Das Problem: Diese Schafe werden so gezüchtet, dass sie viel Hautfläche haben, damit mehr Wolle auf ihnen wachsen kann. So ein Hochleistungsschaf bringt bis zu elf Kilo Wolle, fast dreimal mehr als ein normales Tier. Dadurch entstehen an den Schafen Hautfalten, in denen sich Fliegen einnisten können. Und die sorgen für krankhafte Entzündungen. 

Um das einzudämmen, nutzt die australische Wollindustrie das sogenannte Mulesing. Das ist ein Verfahren, bei dem Lämmern aus Hygienegründen überschüssige Hautlappen am Schwanz weggeschnitten werden – meist ohne Betäubung. In Down Under ist Mulesing oft der Bio-Standard. »Als ich davon erfahren habe, war ich schockiert«, sagt Fresenius. Die Hobbyhäklerin beschloss, es besser zu machen.

Glückliche Tiere: Artgerechte Haltung ist Fresenius ein großes Anliegen
Dickes Fell: Die Wolle der Schafe auf der Nordseeinsel Föhr ist an die klimatischen Bedingungen angepasst

2019 nahm die damals angestellte Personalerin ein Sabbatical, um ihre eigene nachhaltige Wolle produzieren zu lassen – ursprünglich für den Eigengebrauch. Dafür reiste sie durch Deutschland, um mit heimischen Schäfern zu sprechen – hierzulande ist das Mulesing verboten. Doch auch in der Heimat erlebte sie einen Schock. »Deutsche Schäfer müssen in der Regel ihre Wolle nach der Schur wegwerfen«, so Fresenius. Weil deutsches Garn für viele Konsumenten zu rau ist und deswegen als ungeeignet für die Weiterverarbeitung gilt. Aber mit ihrer entschlossenen und charmanten Art überzeugte Fresenius die verdutzten Schäfer, ihr die Rohwolle zu verkaufen. Zunächst 20 Kilo je Herde.

Bei der Spinnerei stellte sie jedoch fest, dass diese nur 500 Kilo verarbeiten kann. Für diese Menge benötigte Fresenius das Doppelte an Rohwolle von den Schäfern. Denn um aus Rohwolle Garn zu spinnen, muss sie gesäubert und entfettet werden. Dabei verliert sie die Hälfte ihres Gewichts. Da Fresenius nach dem Motto »Geht nicht, gibt’s nicht« lebt, kaufte sie den Schäfern diese stattliche Masse an Rohwolle ab. 

Vertieft im Gespräch: In ihrem Showroom erklärt Fresenius ausführlich ihre Produktionsprozesse. Hund Otto nimmt’s ganz gelassen
Viele Fäden in der Hand: Dank der Farbproben aus der Färberei kann Fresenius die Qualität ihrer Garne prüfen

Auf Nachhaltigkeit wollte sie ebenso bei der Färbung achten. Sie wandte sich an eine deutsche Firma, die Mitglied der Umweltallianz Hessen ist und nach OEKO-TEX Standard 100 Produktklasse 1 färbt. »Meine Wolle ist damit auch für Babyartikel geeignet«, betont Fresenius. 

Aus dem Eigenbedarf entwickelte sich in fünf Jahren ein erfolgreiches One-Woman-Business, bei dem im Schnitt zehn Tonnen Wolle in unterschiedlichsten Produktionsschritten und -zuständen im Umlauf sind, entweder beim Schäfer, bei der Wäscherei, Spinnerei, Färberei oder im Versandlager. Dass hierbei etwas schiefgehen kann, erklärt sich von selbst: »Dieses Jahr gab es in der Färberei einen Brandschaden und meine Ware wurde zerstört. Die Färberei haftet nicht für Fremdware, deswegen war es gut, dass ich bei der Allianz versichert bin.«

»Schon als Studentin habe ich mir ein eigenes Bastelgeschäft gewünscht.«

Neu bei mährle ist seit diesem Herbst der Showroom, den sich Fresenius kurz vor der Schweizer Grenze eingerichtet hat. Damit hat sie sich einen lang ersehnten Traum erfüllt. »Schon als Studentin habe ich mir ein eigenes Bastelgeschäft gewünscht. Ich hatte einen Sparvertrag dafür. Den hab ich in mährle gesteckt«, so die gebürtige Hamburgerin. Der gemütliche Ausstellungsraum erstreckt sich über zwei Etagen: Unten im Eingangsbereich hat Fresenius ihre gesamte Knäuel-Kollektion drapiert, geordnet nach den Herkunftsregionen der Schafe: Berlin-Brandenburg, Bodensee, Rhön, Nordfriesland und Schwäbische Alb. In der oberen Etage liegt in der Mitte ein großer weißer Teppich, dahinter ein Regal mit Wolle. Diesen Bereich sollen die Kundinnen und Kunden nutzen, um ihre anstehenden Projekte in Ruhe zusammenzustellen und Farbkombinationen auszuprobieren. »Ich bin stolz, heute Wolle in hundert verschiedenen Farben anzubieten«, erklärt Fresenius. 

Noch ungesponnen: Die gewaschene Wolle kommt als flauschige Masse zur Spinnerei
Bunte Farbwelt: Im Showroom kann die Kundschaft Wolle für ihre anstehenden Projekte raussuchen
Geschickt eingefädelt: Fresenius präsentiert einen ihrer Pullover aus mährle-Wolle
Auf ihrer Farbskala finden sich auch Töne mit sehr kuriosen Namen

Denn Farben spielen für sie eine wichtige Rolle. Sie waren mit ein Grund, warum sie damals ihre eigene Wolle wollte. »Es gab in den Geschäften nicht die Farbtöne, die für mich passten«, sagt sie. Fresenius möchte in ihren Häkeleien bestimmte Landschaften widerspiegeln – am besten mit der Wolle von den dort lebenden Schafen. Sie streicht über eine ihrer Decken. In dieser ist blaue, weiße und beige mährle-Wolle zu einem abstrakten Wellenmuster miteinander verwoben. Für sie symbolisiert das kühle Blau perfekt die Nordsee. Das Weiß steht für die Gischt der Wellen und das Beige repräsentiert den Strand. Fresenius kommt ins Schwärmen: »Wenn ich die Decke ansehe, erlebe ich Nordfriesland wieder.«

Mit dem Showroom möchte sie ihren Kundinnen und Kunden die Möglichkeit geben, Wolle mit allen Sinnen zu erleben. Bisher kommen lokale Besucher, Urlauber aus der Bodenseeregion oder Durchreisende. Sie können einen Termin vereinbaren und sich dann Zeit nehmen, ihr nächstes Projekt vorzubereiten und sich von fertig gestrickten Pullovern, Ponchos und Schals inspirieren zu lassen. Darüber hinaus können Interessierte mährle-Wolle online und bei Händlern in ganz Deutschland, Italien und der Schweiz erwerben. 

Und welche ist die Bestseller-Wolle? »Definitiv die Blautöne, am beliebtesten sind das Friesischblau von den Schafen auf der Nordseeinsel Föhr oder das Vergissmeinnichtblau von den Tieren der Schwäbischen Alb«, weiß Fresenius. Auf ihrer Farbskala finden sich auch Töne mit sehr kuriosen Namen. In der Kollektion »Bodensee« gibt es zum Beispiel die Farbe »Gelbbauchunke unten«, ein warmes Ockergelb. Fresenius klärt auf: »Die Gelbbauchunke ist eine bedrohte Unkenart in der Bodenseeregion. Mit den Namen möchte ich gefährdete Tiere und Besonderheiten der Regionen in den Fokus rücken, um meinen Teil zum Naturschutz beizutragen.«

Text Melanie Kiefersauer
Fotos Jeannette Petri

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