16.09.2024

Eintauchen in ein neues Leben

Diagnose Hirntumor. Die Krankheit hat Martins Existenz radikal verändert. Mitleid will er nicht. Sondern anderen Mut machen und für gute Vorsorge werben

Zur Person

Martin

Martin, 40 Jahre, krempelte sein Leben nach der Diagnose Hirntumor komplett um. Heute lebt der einstige Workaholic ein ruhiges Leben mit seiner Familie in Stralsund – und möchte anderen mit seiner Geschichte Mut machen. 

Martin ist bei vollem Bewusstsein, als die Ärzte ihm am Morgen des 30. April 2021 die Schädeldecke aufschneiden. Er schafft es, die Panik zu bezwingen und Kontrolle über seine Gedanken zu behalten. Die Schmerzmittel wirken. Sein Kopf ist mit einer Klemme fixiert. Ihre drei Dorne sind durch seine Kopfhaut fest an den Knochen geschraubt. Geräte piepsen. Vom Miniatur-Massaker in seinem Schädel sieht Martin nichts. Er liegt auf einem OP-Tisch, um ihn herum ist alles mit grünen Tüchern abgeschirmt. Jetzt kommt es auf ihn an. Eine Psychologin präsentiert ihm Gegenstände auf einem Monitor. Die muss er benennen. Ein Hund. Ein Haus. Ein Auto. Martin macht gut mit. Seine Reaktionen leiten das Skalpell des Chirurgen. Millimeter für Millimeter schneidet dieser den Tumor weg. Würde er das Sprachzentrum des Gehirns treffen, könnte Martin seine Fähigkeit zum Sprechen verlieren. Für immer. Doch das medizinische Team arbeitet präzise. Die Wach-Operation wird ein Erfolg.

»Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst wie vor dieser OP«, sagt der heute 40-Jährige. Auch wenn die Ärzte ihm in mehreren Gesprächen alle Schritte und Risiken genau erklärt haben, »ein Rest Bammel bleibt«, wie Martin es aus-drückt. Besonders bei einer Vorstellung bekommt er heute noch Gänsehaut: »Wenn der Chirurg gepatzt und ich das mitbekommen hätte. Was für ein Horror!« Martin reibt sich über die Arme. An diesem Nachmittag sitzt er auf der Terrasse seines Hauses in Stralsund. Er trinkt Kaffee mit seiner Frau. Die Kinder toben durch den Garten. Die Sonne lacht. Über ihnen lassen sich Möwen im Wind treiben. An das Grauen erinnert in diesem Moment nur die lange Narbe an seiner linken Schläfe. Martin ist ein sogenanntes Astrozytom im Kopf entfernt worden. Ein bösartiger Hirntumor der Stufe drei nach der Skala der Weltgesundheitsorganisation WHO. Diese Krebsartist selten, laut Robert Koch-Institut erkranken etwa sieben von 100.000 Menschen in Deutschland jährlich daran. 

Martin vor dem Meer in Stralsund
Horizont erweitert: Martin ist mit seiner Familie nach Stralsund gezogen – 1000 Kilometer weg von der alten Heimat

Der Tumor wächst besonders aggressiv. Bei Martin ist das Geschwür wohl binnen Monaten auf Golfballgröße gewuchert. Die Ärzte haben ihm trotz OP und Chemotherapie nur fünf Jahre gegeben. Drei sind schon vergangen. Doch Martin pfeift auf die Statistik. »Ich kann auch länger durchhalten«, ist der gelernte Vertriebler überzeugt. Gleich nach seiner Diagnose hat er sich auf die Suche nach Hoffnung gemacht. Sich mit seiner Frau durch die Weiten des Internets geklickt. Fachartikel gelesen. Biografien von prominenten Betroffenen verschlungen. Martin steht auf und kommt mit einem Buch wieder. »Listen to my heart«, steht auf dem Cover. Es ist die Geschichte von Marie Fredriksson vom schwedischen Popduo Roxette. »Mit ihrem Hirntumor hat die Sängerin trotz schlechter Prognose 17 Jahre überlebt«, erzählt er. Das sind die Beispiele, an die sich Martin klammert. Obwohl er weiß, dass der Tod jederzeit früher kommen kann. Geheilt ist er nämlich nicht.

»Ich mochte es nicht, dass die Leute über uns tuschelten«

Martin

Deswegen hat er nach dem Klinik-Albtraum beschlossen: Er muss sein Leben ändern. Radikal. Martin richtet sich in seinem Stuhl auf. Räuspert sich. »Als Erstes haben wir unser Haus verkauft«, sagt er. Seine Frau nickt. Die junge Familie hatte 2017 ein Eigenheim im oberbayerischen Kochel am See erworben. Ein Schmuckstück am Hang, mit Blick aufs Wasser und auf die Berge. Der gebürtige Karlsruher wollte sich damit seinen Wunsch erfüllen, dauerhaft in den Alpen zu wohnen. Doch sein neuer Alltag entwickelte sich zur Last. Denn durch seine Krankheit wurde Martin arbeitsunfähig. Die Hypothekentilgung verlor ihr finanzielles Fundament, das konnte auch die Berufsunfähigkeitsversicherung nicht ausgleichen. Und noch etwas wurde zum Problem. »Ich mochte es nicht, dass die Leute über uns tuschelten«, gesteht er. Im Dorf gab es zwar keine bösen Lästereien. »Aber ich hatte die mitleidigen Blicke satt.« Immer wenn er aus dem Haus ging, trug der USA-Fan deshalb eine seiner vielen Baseballkappen – um wenigstens die Narbe stylish zu verbergen.

Martin kaufte ein modernes Reihenhaus in Stralsund. Für einen Bruchteil des Wertes der alten Immobilie. Im Nordosten Deutschlands hat sich die Familie den neuen Traum nach dem Trauma realisiert. Weit weg von Bayern. »Und … «, Martin verschränkt die Arme vor der Brust, ein Grinsen huscht über sein Gesicht, »… gesunde 40 Kilometer von den Schwiegereltern entfernt.« Seine Frau knufft ihn in die Seite. Er wird ernst. Der Umzug ist auch eine Liebeserklärung an sie. »Vor allem Kathrin liebt das Meer«, erklärt er. »Wenn ich nicht mehr bin, wird es ihr und den Kindern hier gut gehen.« Er schaut verlegen in seinen Kaffeebecher. Sie lächelt ihn an. 

Seinen Lebensstil hat Martin ebenfalls umgekrempelt. Früher arbeitete er im Außendienst für die Automobil- und Finanzbranche. Meist hetzte der diplomierte Betriebswirt mehrere Hundert Kilometer am Tag über die Autobahn – von einem Kundentermin zum nächsten. »Ich kam oft spät nach Hause und hab mich dann schnell ins Bett gelegt«, gibt er zu. Heute lebt der einstige Workaholic deutlich ruhiger. Selbst Freizeitstress würde sein von der Krankheit geschwächter Körper kaum ertragen. So kommt es heute zum Beispiel nach einem Supermarkt-Trip vor, dass er erst mal schlafen muss.

Martin sitzt mit seiner Frau beim Kaffeetrinken in der Sonne auf der Terrasse
Das Glück des Alltags: Vor der Krankheit hetzte Martin von Termin zu Termin. Heute nimmt er sich Zeit für Pausen

Sein Lebensmittelpunkt heißt jetzt Familie. Martin wurde zum Vollzeitpapa. Die Kleine fährt er zum Kindergarten, rauft mit ihr auf dem Sofa und bringt sie abends ins Bett. Mit dem Großen kickt er regelmäßig auf dem Bolzplatz oder unterstützt ihn bei den Hausaufgaben. »Die Kids helfen mir total, den Krebs zu vergessen«, sagt Martin. »Sie zwingen mich, im Hier und Jetzt zu leben.« Beim TSV 1860 Stralsund engagiert er sich ehrenamtlich als Trainer der F-Jugend. Dort spielt sein Sohn. Aber alle Kinder lieben »den Martin« – wenngleich er für vorpommersche Gemüter einen recht exotischen Fußballgeschmack hat: Martin ist Anhänger des Karlsruher SC. Sein Stück Heimat, das er gern in Form eines Fußballtrikots am Herzen trägt.

Sein anderes Glück hat er beim Fernsehen gefunden. Als Statist spielt der Cineast regelmäßig im ZDF-Samstagskrimi »Stralsund« mit. Einmal durfte er sogar selbst einen Polizisten mimen. Das Filmset befand sich am Hafen der Hansestadt. »Vorbeilaufende Kinder dachten, ich bin ein echter Cop«, erinnert er sich. »Das war wirklich witzig.« Die Künstleragentur, bei der er als Komparse registriert ist, vermittelte ihn auch an die Allianz. Er wurde gefragt, ob er nicht Lust hätte, bei einer neuen Kampagne mitzumachen. Die Allianz wollte Betroffenen eine Bühne geben, um ihre persönliche Pflegegeschichte zu erzählen und so gerade junge Menschen frühzeitig für das wichtige Thema Pflegevorsorge zu sensibilisieren. Eines der sechs Schicksale sollte Martins Lebensweg sein. Für ihn war das Angebot ein Wendepunkt. Klar, er war ein zufriedener Allianz Kunde. Aber sollte er seine Geschichte öffentlich machen? Erst haderte er. »Eigentlich habe ich es genossen, in meiner neuen Heimat ein unauffälliges Leben zu führen«, erzählt er. Hier starrten die Leute nicht dauernd auf seine Narbe. Oder redeten hinter seinem Rücken über seine Krankheit.

Martins Frau mit seiner Tochter
Neuer Lebensmittelpunkt: Martin wird vom Außendienstler zum Vollzeitpapa.
Martin spielt mit seinem Sohn Fußball auf dem Bolzplatz
Viel Ballgefühl: Mit seinem Sohn kickt Martin häufig auf dem Bolzplatz. Zudem engagiert er sich als Jugend Fußballtrainer

Das »Ja« sagte dann sein Bauch. Über seinen Meinungsumschwung wundert er sich noch heute ein bisschen. Seine Frau schmunzelt und ergänzt: »Martin fühlt sich oft wie ein Blatt im Wind. Aber eigentlich weiß er tief im Innern, was er will.« Seit dem Werbedreh fliegt das Blatt hoch am Himmel. Er hat viel positive Resonanz bekommen. »Ich will mich nicht mehr verstecken. Denn ich habe gemerkt, dass ich Menschen Mut machen kann.«

Und durch die plötzlich in sein Leben gebrochene Krankheit ist da noch eine andere Erkenntnis gewachsen: »Es kann jeden treffen.« Besonders während der zwölf Wochen in Klinik und Reha hat er über das »Warum« gegrübelt. Die Ärzte wussten keine Antworten. Er war genetisch nicht vorbelastet und lebte gesund. Auch die Vermutung, dass Handystrahlung den Tumor verursacht haben könnte, verneinten die Experten. Während seiner Vertriebszeit pflegte Martin eine innige Beziehung zu seinem Mobiltelefon. Beim ständigen Telefonieren hielt er es an die linke Kopfseite gedrückt – dorthin, wo der Krebs dann entstanden war.

»Wir haben beide unsere Kratzer im Leben abbekommen«

Martin

Heute gelingt es Martin, solch negative Gedankenspiralen schnell zu stoppen. Am besten kann der Autonarr in seinem Dodge RAM abschalten. Auch an diesem Nachmittag schwingt er sich in seinen blauen Pick-up. Das reparierte Unfallfahrzeug hat er 2023 aus den USA importiert. Ein Wagen mit tragischer Vorgeschichte. Das verbindet. Martin tätschelt das Armaturenbrett und sagt: »Wir haben beide unsere Kratzer im Leben abbekommen und jetzt in unserem zweiten Leben richtig Spaß.« Dann startet er den Motor. Es geht zum Hafen, einem seiner Lieblingsorte. Dass er überhaupt Auto fahren darf, verdankt er den Medikamenten gegen die Epilepsie. Eine typische Nachwirkung bei Hirntumor-Patienten. »Ich könnte jederzeit einen Anfall bekommen«, bemerkt er. 

Ein epileptischer Anfall beendete 2017 sein erstes Leben. Martin blickt kurz in den Rückspiegel und setzt vorschriftsmäßig den Blinker. Biegt langsam ab. Dann erinnert er sich: »Ich wollte nachts auf die Toilette. Mir war schwindelig. Als ich mich grade aufs Klo setzen wollte, bin ich gegen die Wand geknallt und zusammengebrochen.« In der Notaufnahme machten die Ärzte CT-Aufnahmen von seinem Kopf. Sie wollten eine Gehirnerschütterung oder einen Bruch aus-schließen – und entdeckten den Tumor. Erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, gab es durchaus. Die Ampel an der Kreuzung springt auf Gelb. Martin bremst sanft. Er will nichts riskieren, seinen einst rasanten Fahrstil hat er abgelegt. »Ich hatte manchmal richtig starke Kopfschmerzen, war oft müde und vergesslich«, erzählt er. »Ich dachte, das wäre der Stress.«

Martin sitzt in seinem Pick-up.
Zwei Charaktertypen mit Geschichte: Martin liebt seinen Pick-up, einen aus den USA importierten Unfallwagen

Martin parkt sein Auto in einer Seitenstraße. Heute möchte er ins Ozeaneum. »Wir sind sehr oft hier. Die Kinder lieben die vielen Fische«, sagt er. Er schlendert durch die dunklen Räume. Als er in die große Halle mit dem gigantischen Aquarium kommt, setzt er sich auf eine Bank. Er ist erschöpft. »Manchmal träum’ ich hier vor mich hin«, sagt er leise. Am liebsten von den Malediven. Da war er schon. Und er möchte noch einmal hin. Vor allem wegen der Korallenriffe. Damals ist beim Schnorcheln sogar ein Rochen direkt an ihm vorbeigeschwommen. Er hat das Tier kaum bemerkt, weil er mit den Gedanken bei der Arbeit war. Nächstes Mal will er es besser machen. »Der Krebs hat mir gezeigt, wie ich die Dinge intensiver genießen kann«, sagt er. In dem Moment schwebt ein Rochen direkt an der Scheibe vorbei. Martin schaut ihm lange nach, als er in der blauen Tiefe verschwindet.

Text Sonja Hoogendoorn
Fotos Maximilian Gödecke

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