Julian Lammering leidet an einer genetisch bedingten Bewegungsstörung. Lange Zeit dachte er, Spitzensport sei nur etwas für andere. Doch nach dem Abitur kam alles anders. Der heute erfolgreiche Rollstuhlbasketballer darf mit seinem Team auf die Teilnahme an den Paralympics in Paris hoffen – ein Porträt.
Zur Person
Julian Lammering, Jahrgang 2004, spielt derzeit als Center beim BBC Münsterland. Er sitzt aufgrund der hereditären spastischen Spinalparalyse, kurz HSP, im Rollstuhl. Seit 2023 ist er Mitglied der Nationalmannschaft und feierte mit seinem Team bereits Erfolge als WM-Achter und EM-Vierter.
Mit 14 war Julian Lammering übergewichtig, fand Rollstuhlfahren uncool und dachte, Spitzensport sei nur etwas für andere. Für die, die beim Schulsport mitmachen konnten. Deren Beine gut genug funktionierten, um von einer Karriere als Fußballprofi zu träumen. Dass das bei ihm nichts werden würde, war klar. Mit einer genetisch bedingten Bewegungsstörung träumt man solche Träume nicht. Da hofft man, dass die Lehrer als Ziel für Klassenausflüge nicht wieder die 533 Treppenstufen hoch gelegene Aussichtsplattform des Kölner Doms oder einen Sport- und Erlebnispark auswählen. Lammering ist das passiert. »An einer Regelschule ist es hart«, sagt er.
Heute ist Julian Lammering 19 Jahre alt, hat sein Abitur in der Tasche und ist mittlerweile in Topform. Sein Oberkörper ist muskelbepackt. An seinen
Händen zeugen dicke Schwielen von vielen Stunden im Rollstuhl. Der ist ihm längst nicht mehr peinlich, sondern sein Sportgerät. Er hegt und pflegt die
14.000 Euro teure Hightech-Sonderanfertigung mit Hingabe. Julian Lammering ist Rollstuhlbasketballer geworden. Einer der besten im Land. Seit 2023
Mitglied der Nationalmannschaft, WM-Achter und EM-Vierter. Er darf sich Hoffnungen auf eine Teilnahme an den Paralympischen Spielen im kommenden Sommer in Paris machen.
Ein Montagnachmittag Ende Oktober. Lammering fährt mit seinem in die Jahre gekommenen Toyota Yaris auf den Hof der Josefschule im münsterländischen Warendorf. Wenn dort kein Unterricht mehr ist, darf er das. Er lädt seinen Rollstuhl aus und schiebt ihn zur Sporthalle. Sehr kleine Strecken kann er noch gehen. Seine Erkrankung, eine hereditäre spastische Spinalparalyse, abgekürzt HSP, ist fortschreitend. Erblich bedingt kommt es zu einer zunehmenden Degeneration im Rückenmark. Eine erhöhte Muskelspannung (Spastik) und Schwäche in der Beinmuskulatur führen zu einer immer stärkeren Gangstörung.
Bei Lammering fiel die Erkrankung im Alter von drei Jahren auf. Damals wurde sein Gang plötzlich unsicher. Seine Mutter hatte gerade seinen kleinen Bruder Maximilian zur Welt gebracht. Und da auch sie eine Bewegungsstörung hat, angeblich, weil sie bei ihrer Geburt einem Sauerstoffmangel ausgesetzt war, hieß es zunächst, der kleine Julian mache aus Eifersucht auf das neue Baby die Mutter nach. »Es war ein langer Weg, bis die Ärzte verstanden haben, dass ich nicht nur so tue«, sagt Lammering.
Dabei kam auch heraus, dass die Mutter ebenfalls HSP hat. Man hatte ihr immer versichert, ihre Bewegungsstörung sei nicht vererbbar. Nun haben beide Söhne dieselbe Erkrankung wie ihre Mutter. »Sie sagt aber immer, dass sie uns trotzdem bekommen hätte, wenn sie es gewusst hätte«, erzählt Lammering. »Weil sie gelernt hat, dass man auch mit dieser Einschränkung sehr gut leben kann.« Für ihre beiden Söhne gilt das besonders, seit sie den Rollstuhlbasketball entdeckt haben.
»Ich habe geweint und wollte nach Hause«
Julian Lammering, Rollstuhlbasketballer
Julian Lammering war 13 Jahre alt. Bis dahin hatte er Bogenschießen und Reiten ausprobiert. Viel mehr gab es nicht für Jungs wie ihn in seinem Heimatort Gescher im Kreis Borken nahe der niederländischen Grenze. So war er zum übergewichtigen Sportmuffel geworden. Rollstuhlbasketball wurde nur in Münster angeboten, eine knappe Stunde Fahrt von seinem Zuhause entfernt. Als Lammering das entdeckte, ging er dort einmal pro Woche zum Training – und wurde nur anderthalb Jahre später, mit 15, zu einem Sichtungslehrgang der U-19-Nationalmannschaft eingeladen.
Es ging für drei Tage nach Köln. »Ich habe geweint und wollte nach Hause«, erinnert sich Lammering sechs Jahre später. »Ich bin ein absoluter Familienmensch und habe Ferienlager gehasst.« Aber er hielt durch. Und wurde am Ende ins U-23-Nationalteam berufen. Er sollte zwei Wochen später mit nach Dubai zu einem Turnier fliegen. »Ich war fassungslos. Aber ich habe keine Sekunde gezögert, diese Chance zu ergreifen.« Heute sind Reisen Normalität für Lammering. Er ist mit seiner Bundesligamannschaft BC Münsterland in Deutschland unterwegs und mit den Nationalmannschaften der U 23 und der Herren in der ganzen Welt. »Ich habe einen Sport gefunden, in dem ich gut sein kann, in dem ich andere abziehen kann, das war total wichtig für mein Selbstbewusstsein«, erklärt er.
Die Sporthalle hat Lammering an diesem Montagnachmittag ganz für sich allein. Er schaltet die Lichter ein und lässt einen der Basketballkörbe hinunter. »Shooting« steht auf seinem dicht getakteten Wochenplan. Am Abend folgt noch »Fitti«, eine Trainingseinheit im Fitnessstudio. Die Muskeln am Oberkörper sind nicht nur für die Optik, sondern helfen Lammering auch im Spiel. Beim Rollstuhlbasketball geht es körperlich fast noch etwas mehr zur Sache als beim »Fußgänger«-Basketball. Es wird geschoben und gerempelt, da gilt es gegenzuhalten.
Lammering schnallt sich in seinem Rollstuhl fest. Füße, Knie, Oberschenkel, Hüften – alles wird mit breiten Gurten fixiert. Dann legt er los. Anschieben, dribbeln, den Rollstuhl nur mit den Hüften elegant in eine Kurve legen – und Wurf. Wieder und wieder schickt Lammering den Ball auf die Reise in Richtung Korb. Am Anfang gehen noch viele daneben, dann laufen die Systeme des Athleten langsam warm. Schließlich ist ein Ball nach dem anderen ein Treffer. Der Korb hängt wie bei den Fußgängern in 3,05 Metern Höhe. »Wir können nicht dunken«, sagt Lammering, »aber alles andere können wir genauso.«
Seit dem vergangenen Sommer absolviert er bei seinem Verein in Warendorf einen Bundesfreiwilligendienst. Er leitet eine AG an einer Schule und hilft bei diversen Arbeiten im Klub. Vor allem aber trainiert er. Zu den drei Trainingseinheiten mit seiner Bundesligamannschaft kommen viel »Shooting« und viel »Fitti«, außerdem steht einmal Physiotherapie auf seinem Wochenplan. »Das Wichtigste sind die Überstunden«, sagt Lammering. Inzwischen steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Er rollt wieder los, dribbelt, wirft, trifft. »Wenn du den Ball nicht in den Korb wirfst, kann dir kein Trainer helfen.«
Der Sportmuffel ist längst zum disziplinierten Musterathleten mit klaren Vorstellungen hinsichtlich seiner Zukunft gereift. Nach einem Jahr »allein wohnen light« in der Nähe der Heimat will er im nächsten Herbst mit seiner Freundin Tuva vom beschaulichen Warendorf aus weiterziehen, in eine neue Stadt zu einem neuen Klub. Als Rollstuhlbasketball-Profi könne man gut genug verdienen, um sich sein Studium zu finanzieren, sagt Lammering. Psychologie soll es bei ihm werden. Sie will Tiermedizin studieren. Aktuell wohnen die beiden auf engstem Raum in einem Einzimmerappartement zusammen. Das funktioniere gut, sagen sie. Er trainiert, sie macht ihr Abitur. Da bleibt nicht viel Zeit, sich auf die Nerven zu gehen.
Und Partys? Enge Spiele seien besser, sagt Lammering: »Da ist man so unter Adrenalin, das toppt jede Party.« Mit 15, 16 Jahren sei er viel unterwegs gewesen. Inzwischen lebe er nach dem Credo: »Feiern muss sich lohnen. Man schließt es nicht komplett aus, sondern reduziert es auf ein paar Gelegenheiten, zu denen es sich dann richtig lohnt.« Seine Freundin ist da ganz auf seiner Wellenlänge. Sie hat keine Bewegungseinschränkung, spielt aber auch Rollstuhlbasketball beim BBC Münsterland. So hat sich das Paar kennengelernt. Ihre Schwester und sein Bruder sind ebenfalls im Verein.
Dass die Lammerings über riesiges Talent verfügen, sei immer deutlich zu sehen gewesen, sagt Tuva: »Mir war immer klar, dass Julian irgendwann in die Nationalmannschaft kommt.« Und Maximilian folgt den Spuren seines Bruders – ins Bundesligateam und in die U-23-Nationalmannschaft ist der 16-Jährige bereits aufgestiegen. Als Nächstes will der Ältere den Sprung zu den Paralympischen Spielen vormachen. Paris 2024 ist sein großes Ziel. Er sagt: »Wenn man es zu den Paralympics geschafft hat, hat man alles geschafft.«
Text Susanne Rohlfing
Fotos Katharina Kemme