16.01.2024

»Auch ein Sehender sollte beim Judo die Augen schließen«

Liebe auf den zweiten Wurf: Alles, was er nach seiner Erblindung plötzlich nicht mehr konnte, klappte auf der Judomatte noch. Die Sportart hat Lennart Sass motiviert, nicht aufzugeben. Jetzt will er Gold bei den Paralympischen Spielen in Paris gewinnen

Die Allianz und ihre Agenturen fördern Sportveranstaltungen auf allen Ebenen – vom örtlichen Jugendturnier bis zum Spitzensport. Denn Gesundheit, Inklusion und Teamgeist liegen einem Versicherer am Herzen. Seit 2021 ist die Allianz auch weltweiter Partner der olympischen und paralympischen Bewegungen. Das Engagement ist auf acht Jahre ausgelegt und baut auf der seit 2006 bestehenden Zusammenarbeit mit der paralympischen Bewegung auf.

Jahrgang: 2000

Wohnort: Heidelberg

Beruf: Jura-Student                         

Disziplin: Para-Judo; Schadensklasse: J1 (blind), Gewichtsklasse: 73  

Heimatverein: Rendsburger TSV

Größte Erfolge: 2022 Vize-Weltmeister, Vize-Europameister, 2023 Dritter bei den World Games, Vize-Europameister

Meine bislang schlimmste Sportverletzung: Schultereckgelenksprengung

Ritual vor Wettkampf: Motivationsmusik hören, Körper von oben bis unten abklopfen

Ritual nach Wettkampf: Wettkampf Revue passieren lassen

»Handball war mein Sport, den ich viele Jahre leidenschaftlich gespielt habe. Im Jahr 2016, mit 16 Jahren, erblindete ich plötzlich. Die Erbkrankheit LHON brach aus. Das hat natürlich mein Leben verändert. Unter anderem musste ich mich schweren Herzens von meiner Mannschaft verabschieden. Zum Glück aber hatte ich noch eine zweite große Leidenschaft: Judo.

Mit fünf Jahren stand ich zum ersten Mal auf der Judomatte. Ich war ein energiegeladener Junge und habe schon immer das Kämpfen und Raufen gesucht. Judo ist ein Sport, bei dem ich diese Energie rauslassen konnte. Ich bin damals wie heute für meinen Heimatverein in Rendsburg auf die Matte gegangen. Nach meiner Erblindung empfing mich der Verein wie selbstverständlich mit offenen Armen. Viele der Bewegungen und Techniken hatte ich noch im Kopf und konnte deshalb weiterhin aus dem Vollen schöpfen. Der einzige Unterschied zu früher: Ich starte jetzt mit dem Griff am Gegner.

Ich durfte in beiden Welten kämpfen und ich würde sagen, dass ich jetzt ein stärkeres Körpergefühl habe. Ich würde jedem raten, die Augen beim Kampf zu schließen, weil man dann nicht durch visuelle Reize abgelenkt ist, sondern voll und ganz bei sich bleibt. Sobald ich gegriffen habe, kann ich meinen Gegner genau fühlen, kontrollieren und im besten Fall meinen Stil durchkämpfen.

Mein starkes Selbstvertrauen auf der Matte hat mir auch im Alltag Selbstbewusstsein und damit Unabhängigkeit gegeben. Alles, was ich damals plötzlich nicht mehr konnte, ging auf der Matte noch. Judo war mein Fels in der Brandung. Daran bin ich gereift. Wenn ich meine sportliche Entwicklung anschaue, stelle ich stolz fest: Ich bin in den letzten Jahren über mich hinaus gewachsen. Wer hätte gedacht, dass sich meine Leidenschaft aus der Kindheit so positiv entwickeln würde?

In Heidelberg trainiere ich nun seit gut einem Jahr. Dort konnte ich mein Jura-Studium (4. Semester in Kiel), nahtlos fortsetzen. Heidelberg ist mein paralympischer Stützpunkt, dort sind meine Nationaltrainer und weitere paralympische Athleten. Ich trainiere dort außerdem im Bundesliga-Team Heidelberg/Mannheim mit sehenden Judoka. Davon profitiere ich sehr, weil es Topathleten sind, die sich auch auf unseren Griff, neutrale Kampfstellung, eine Hand am Arm Rever, einstellen.

Über die Nationalmannschaft durfte ich bisher Länder bereisen, die ich sonst nie besucht hätte. Anders als beim Handball reise ich für einen Wettkampf nicht ins nächste Dorf, sondern eher in weiter entfernte Länder. Es ist schon eine ziemliche Herausforderung Sport, Studium und Freizeit unter einen Hut zu bekommen. Doch mit Struktur, Willenskraft und Disziplin funktioniert das. Ich spreche immer gerne von Zeit haben und mehr Zeit nehmen. Aber bisher funktioniert es und ich bin auch optimistisch, dass es bis Paris und darüber hinaus klappt. Mein Studium ist wichtig für mich, da ich auch eine Perspektive nach dem Sport haben möchte. Denn: Jeden Tag könnte man sich verletzen und die Karriere wäre möglicherweise beendet.

Meine Familie begleitet mich oft zu Wettkämpfen – auch ins Ausland. In Heidelberg sind eigentlich immer alle am Start, in Paris natürlich auch. Ich freue mich immer sehr, wenn die Familie in persona hinter mir steht und nicht nur über den Livestream zuschaut. Das ist für mich ein großer Rückhalt. Meine Familie und mein soziales Umfeld sind ein ganz wichtiger Anker für mich.

Aktuell bin ich Weltranglistenzweiter und habe damit eine recht sichere, positive Ausgangslage für die Paralympischen Spiele. Wenn ich bei den kommenden drei Wettkämpfen in Heidelberg, der Türkei und Georgien mein Niveau halte, dann sollte ich mich unter den Top-8 qualifizieren. Im besten Fall unter den Top-4, dann bin ich gesetzt. 

Ich bin dankbar und demütig über diese Möglichkeiten, wenn man bedenkt, dass es lange gedauert hat, überhaupt in der paralympischen Welt anzukommen. Dass ich mich jetzt für Paris qualifizieren könnte, ist wirklich gigantisch. Jeder Athlet, der dort antritt, strebt nach Gold – auch ich werde alles dafür geben. Trotz meiner Blindheit träume und visualisiere ich meine Ziele.

Ich bin ein Kämpfer. Auf der Matte stecken Emotionen, Freude und ein 100 %-iger Kampfgeist alles zugeben. Im Januar letzten Jahres habe ich einen Grand Prix in Lissabon gewonnen. Das war mein erster Kampf nach meiner Schulterverletzung im Dezember. Als die Nationalhymne gespielt wurde, war ich zwar völlig erschöpft, aber auch voller Stolz. In solchen Momenten bin ich nahe am Wasser gebaut.«

Lennart Sass gewinnt Bronze!
Der Para-Judoka hat seine erste paralympische Medaille gewonnen. Nach zwei Waza-ari-Wertungen setzte er sich im kleinen Finale nach 1:53 Minuten durch Ippon 10:0 gegen den Usbeken Schochruch Mamedow durch. Es ist die erste deutsche Judo-Medaille seit Rio 2016. Herzlichen Glückwunsch!

Protokoll Maria Dünninger
Fotos Katharina Werle

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