08.11.2023

Zeit, dass sich was dreht

Sofern es nicht regnet, fährt unsere Autorin Rad. Doch in München macht das nicht immer Spaß – Autos verstopfen die Straßen, Radwege sind zugeparkt. Tage, an denen es nicht zu brenzligen Situationen kommt, sind jene, an denen sie wegen des Wetters die U-Bahn nimmt. Innenansichten einer nicht ganz ungefährlichen Bewegung.

Zur Person

Sina Horsthemke hat in der Fahrradstadt Münster studiert. Bis heute hat sie kein Auto, aber drei Fahrräder. Mit denen radelt die freiberufliche Journalistin in ihr Büro, nach Feierabend an der Isar entlang oder am Wochenende durchs Alpenvorland. Ihr ältestes Rad gehörte früher ihrem Opa, der damit in den Ferien bis nach Ungarn fuhr.

Muss ich wie heute zum Hauptbahnhof, habe ich die Wahl. Ich kann bequem mit der U-Bahn fahren und bin nach sechs Minuten am Ziel. Oder ich steige aufs Rad. Das dauert zehn Minuten länger, aber ich bewege mich an der frischen Luft. Zudem muss ich mich in der Erkältungszeit nicht in einen überfüllten Waggon quetschen und kann direkt zu den Gleisen gehen, anstelle des langen unterirdischen Wegs zwischen U-Bahn und Fernzug. Sofern es nicht regnet, entscheide ich mich daher für das Fahrrad. Nicht nur für den Weg zum Bahnhof, sondern eigentlich immer, wenn ich innerhalb der Stadt irgendwohin muss.

Ich bin eine von vielen. 80 Prozent der Münchner:innen besitzen ein verkehrstüchtiges Fahrrad, etwa 20 Prozent der Wege innerorts legen die Menschen hier auf zwei Rädern zurück. Die Zahlen sind zuletzt gestiegen: Während 2002 nur 10 Prozent der Wege auf das Fahrrad entfielen, waren es 2008 schon 14 Prozent. Mehr als 80 Prozent der Menschen, die hier regelmäßig radeln, nutzen ihr Fahrrad in der warmen Jahreszeit täglich. An heißen Sommertagen registrieren die Dauerzählstellen an beliebten Radrouten mehr als 19.000 Fahrräder. Selbst schlechtes Wetter hält viele nicht davon ab, in die Pedale zu treten: Mehr als 8000 Menschen passieren die Zählstellen an Regentagen auf Fahrrädern. 

Wenn so viele radeln, muss das in München Spaß machen, könnte man meinen. Von meinem Weg zum Bahnhof macht mir nur die erste Hälfte Spaß. Da geht es zunächst bergab – von Obergiesing runter zur Isar und mit Schwung über die Wittelsbacher Brücke auf die andere Seite. Am Arbeitsamt vorbei führt ein breiter Radweg. Doch je näher ich dem Bahnhof komme, desto mühsamer wird die Fahrt. Nicht, weil ich nicht fit wäre. Es ist die Gegend rund um den Hauptbahnhof, die für Menschen auf Fahrrädern anstrengend ist: Autos verstopfen die Straßen. Lieblos schmale Radwege sind zugeparkt, von Baumwurzeln holprig durchwachsen, oder sie enden unverhofft mitten im Verkehr. Und regelmäßig nehmen Baustellen den wenigen Platz für Fahrräder weg.

Wer hier radelt, dem wird klar, warum die Imagekampagne »Radlhauptstadt München« acht Jahre nach ihrem Start ausgelaufen ist. Zwar verlaufen etwa 260 Kilometer Fahrradrouten Münchens in Grünanlagen oder auf landwirtschaftlichen Wegen, und angeblich sind 91 Straßenabschnitte als Fahrradstraßen ausgewiesen. Eine Fahrradhauptstadt ist München aber wahrlich nicht. Und das ist nicht nur meine Meinung. Der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) hat in seinem Fahrradklima-Test 2022 München auf Platz fünf der großen Städte einsortiert. Bremen führt das Ranking an, auf den Rängen zwei und drei folgen Frankfurt und Hannover vor Leipzig. Zu den Aufholern gehören Köln, Bonn und Koblenz, wo sich offenbar viel getan hat. In München hat sich laut ADFC seit 2020 nichts verbessert.

Radweg mitten auf der Straße: Das kann gut funktionieren, wie hier in der Nähe der Theresienwiese in München, oder weniger gut – wie am Ostbahnhof

Ich bekomme das am nächsten Morgen zu spüren. Im Berufsverkehr radle ich zu einem renommierten Verlagshaus im Nordosten der Stadt, der Tag soll mit einer Redaktionskonferenz starten. Am Anfang läuft’s ganz gut: Gekonnt schlängele ich mich am Ostfriedhof über eine riesige Kreuzung, auf der in alle Richtungen Schienen verlaufen. Radelnde müssen hier nicht nur auf Autos, Busse und Trambahnen achten, sondern gleichzeitig auf den Boden schauen, damit sich die schmalen Fahrradreifen nicht in einer der zahllosen Tramschienen verkanten. Ist das sturzfrei überstanden, biege ich die nächste rechts ab und nähere mich meiner persönlichen Radfahrhölle: dem Ostbahnhof. Es gibt in der Stadt schlimmere Passagen für Radelnde. Doch wenn ich dort vorbei und pünktlich sein muss, verliere ich regelmäßig die Nerven.

Mein Hauptproblem auf dieser Route: Die Ampelschaltungen sind fürs Autofahren gemacht, und Kreuzungen gibt es reichlich. Wer in Fahrradgeschwindigkeit unterwegs ist, hat meist »rote Welle« und darf gefühlt alle 150 Meter ein Päuschen machen. Der Radweg, der an einer der großen Kreuzungen mitten auf der Straße verläuft, ist gut gemeint, aber nicht ganz ungefährlich: Heute gerate ich zwischen zwei Busse, die plötzlich nach rechts zur Haltestelle rüberziehen und dabei den Radweg kreuzen. Als der Bahnhof hinter mir liegt und es endlich wieder rollt, muss ich noch einmal bremsen: Eine Kehrmaschine setzt rückwärts in eine Seitenstraße und überquert dabei den Fahrradweg. Der Fahrer schaut in die andere Richtung.

Zum Glück hatte ich in dieser Stadt noch nie einen Unfall mit dem Fahrrad. Doch ich bin mir sicher: Wäre ich nicht so defensiv unterwegs, sondern bestünde immer auf mein Recht, käme es bei jeder Tour zu einem Crash. Am häufigsten mit Autofahrer:innen, die rechts abbiegen und mich auf dem Radweg übersehen. Dann mit solchen, die aus Ausfahrten schießen, ohne nach links zu schauen. Beinah lächerlich oft bekomme ich es mit einem weiteren Klassiker zu tun: sich plötzlich öffnenden Autotüren, denen man auf dem Rad nur mit einem riskanten Schlenker ausweichen kann, falls Bremsen nicht mehr möglich ist. Ich wünschte, durch München zu radeln wäre einfacher. Aber Tage, an denen es nicht zu brenzligen Situationen mit dem Fahrrad kommt, sind jene, an denen ich wegen des Wetters die U-Bahn nehme.

Mahnmal: Sogenannte Ghostbikes erinnern in München an Menschen, die beim Radfahren tödlich verunglückten. Dieses wurde für einen 75-Jährigen aufgestellt, der im Sommer 2016 am Nockherberg starb

Gleichzeitig bin ich froh, dass ich bisher unfallfrei durchgekommen bin. Andere sind das nicht. 2022 ereigneten sich in München 21 tödliche Verkehrsunfälle, neun der Toten waren mit dem Rad unterwegs. Wo sie zu Tode kamen, platzieren Freiwillige seit einigen Jahren zum Gedenken weiß lackierte Fahrräder. Mehr als 20 solcher Ghostbikes soll es in der Stadt inzwischen geben, auf meinem Heimweg komme ich an einem davon vorbei. Es erinnert an einen 75-jährigen Mann, der im Sommer 2016 am Nockherberg ums Leben kam.

Freude am Fahren habe ich auf anderen Strecken. Montags zum Beispiel, wenn ich durch den Englischen Garten zu einem Termin im Norden der Stadt radle. Ohne Autos und Ampeln durchs Grün zu rollen, mit frischer Luft in den Lungen und auf gutem Asphalt, macht einfach Spaß. Zu Unfällen kommt es hier laut der Münchner Radl-Unfallkarte so gut wie nie. Auch am Isarradweg oder auf der Rennradstrecke durch den Perlacher Forst Richtung Süden lässt es sich wunderbar ein paar Gänge hoch- und vom Stress abschalten. 

Und auf dem Weg in die Innenstadt freue ich mich regelmäßig über eine rote Neuerung: den etwa 2,30 Meter breiten Fahrradweg in der Fraunhoferstraße, dem vor drei Jahren 120 Parkplätze weichen mussten. Was ein Verkehrsversuch war und manche in Rage brachte, soll bleiben, entschied die Stadt.

Gut für alle, die hier mit dem Fahrrad unterwegs sind: Der Streifen ist optisch klar von der Fahrbahn abgetrennt und so breit, dass gefahrlos Überholmanöver möglich sind. Kurz vor dem Sendlinger Tor radelt es sich dann mit Freude über ein fertiges Teilstück des versprochenen Altstadt-Radlrings. Das 2019 als Reaktion auf ein Bürgerbegehren begonnene Bauprojekt könnte für Radelnde Grund zu feiern sein, macht sie aber eher wütend: Gerade einmal zwölf Prozent der 10,3 Kilometer langen Route um die Altstadt sind bisher entstanden. Geht der Ausbau in dem Tempo voran, ist mit der Fertigstellung im Jahr 2046 zu rechnen. Ich wäre dann fast in Rente. Ob ich dann noch Fahrrad fahren kann? #woistunserradlring fragt das Bündnis »Radentscheid München« inzwischen mit einem eigenen Hashtag. Ja, wo?

Statt über den Radlring rolle ich zwei Tage später in der Innenstadt vorsichtig an einer Autoschlange vorbei, die vor einer roten Ampel wartet. Viel Platz ist nicht zwischen meinem Bremsgriff und den Außenspiegeln, das gebe ich zu. Es ist eng, doch ich habe die Situation im Griff – trotzdem beschwert sich ein Herr lauthals aus seinem geöffneten Autofenster. Wo soll ich denn hin? Auf dem Gehweg sind zu viele Leute, einen Radweg gibt es nicht. Ich könnte mich 100 Meter weiter hinten hinter das letzte Auto in die Schlange stellen. Doch das sehe ich irgendwie nicht ein. Unter anderem dafür nehme ich ja das Fahrrad: um im Berufsverkehr schneller am Ziel zu sein als die Autos im Stau.

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Text Sina Horsthemke
Fotos Verena Kathrein 

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