29.11.2023

Bode an die Freude

Ob Motorrad oder Rennrad – die Überholspur war für Erasmus Bode der Weg ins Glück. Bis eine fatale Diagnose sein rasantes Leben plötzlich ausbremste. 1890 digital hat den heute todkranken Dortmunder einen Tag lang begleitet 

Zur Person

Erasmus Bode, Jahrgang 1959, ist vor elf Jahren an Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, erkrankt. Er lebt mit seiner Familie in Dortmund.

Endlich. Pfleger Philipp fährt ihn mit dem Rollstuhl in den Garten. Am Teich angekommen, fragt Erasmus Bode seinen Helfer: »Bereit für eine Dummheit?« Pfleger Philipp schmunzelt. Vorsichtig zieht er ihm die beiden Silikonröhrchen aus der Nase. Streift ihm die Gummibänder seiner Atemmaske vom Kopf. Bode schließt die Augen. Seine Nasenflügel blähen sich auf wie die Nüstern eines Rennpferdes. Der Brustkorb hebt sich ein wenig. Bode gibt alles. Alles, was die restlichen fünfzehn Prozent seines Lungenvolumens noch so schaffen. Der Morgen duftet herrlich. Nach frisch gemähtem Gras und feuchter Erde. In der Nacht hat es geregnet. »Lecker«, flüstert der gebürtige Kölner, öffnet wieder seine Augen und lächelt. »Schön, zwischendurch was zu schnuppern.«

Nach zehn Minuten ist die olfaktorische Freiheit wieder vorbei. Pfleger Philipp mahnt: »Erasmus, du musst deine Maske aufziehen!« Die Maske. Bode, Jahrgang 1959, muss sie eigentlich rund um die Uhr tragen. Nur zum Essen darf er sie abnehmen. Seine Atemmuskulatur ist inzwischen so schwach, dass er technische Hilfe beim Schnaufen braucht. Die Luft pumpt nun ein Kompressor durch seine Nase. Bode lässt sich also wieder brav seinen Plastikrüssel überstreifen. Selbst kann er das nicht mehr. Sein Körper ist bis auf den Kopf komplett gelähmt. 

Mit Wahrscheinlichkeiten braucht man bei ihm nicht zu kommen

Andächtig blickt er mit seinen klaren blauen Augen jetzt auf den Gartenteich. Einer der wenigen Wohlfühlorte, die ihm seit der Krankheit geblieben sind. Stundenlang kann er hier aufs Wasser starren. Flora und Fauna beobachten. Details entdecken. Als talentierter Zeichner hat er sich früher schon für seine Umwelt begeistern können. Mit Bleistift hat er etwa gern Insekten auf Papier skizziert. »Lass mal schauen, ob was passiert«, spricht er zu seinem Pfleger, »bevor wir die schönste Rennstrecke der Stadt besuchen.« Die beiden Männer betrachten den Tümpel. Ein paar blau-schillernde Libellen tanzen über die moosgrüne Oberfläche. Das wars. Die Natur scheint gerade keine Lust auf Spektakel zu haben. »Einmal ist einer der Goldfische aus dem Teich gesprungen und hat eine Libelle im Flug geschnappt«, sinniert er. Natürlich sei sowas selten. Aber mit Wahrscheinlichkeiten brauche man ihm nicht zu kommen. Schließlich habe die Natur auch bei ihm zugeschnappt. Unerwartet. Einfach so. Wie ein dämlicher Goldfisch. 

Strahlend: Für zehn Minuten kann Erasmus Bode seine Atemmaske abnehmen
Barrierefreiheit: Mit dem Bus fährt Bode gerne zum Phoenix-See, wenn auch gemütlicher als früher.

Es geht zur Bushaltestelle. Selbst an so einem kühlen Tag zieht es Bode nach draußen. Es regnet nicht. Das ist die Hauptsache. »Die ganze Elektronik im und am Rollstuhl darf nicht nass werden«, betont der studierte Maschinenbauingenieur, »sonst kann sie kaputt gehen.«

Die Krankheit hat ihn Geduld gelehrt

Pfleger Philipp lenkt den Rollstuhl lässig über den Bürgersteig. »Pass auf den Hubbel auf!« Bodes flache Stimme stemmt sich gegen das nahende Hindernis. Sein Pfleger bremst ab. »‘Tschuldigung, Erasmus. Ich dreh um. Da hinten ist’s nicht so ruckelig.« Jede kleine Erschütterung verursacht dem steifen Körper inzwischen Schmerzen. Der Grund, warum der Mann aus Haut und Knochen auch nur noch in seinem Rollstuhl schlafen kann – tägliches Umhieven ins Pflegebett wäre zu qualvoll. Es reicht, wenn er das einmal pro Woche für den Toilettengang ertragen muss. Eine zweistündige Prozedur, die manchmal nur mit Schmerzmitteln gelingt.

Klicken Sie durch die Bildergalerie: Er ist stolz auf seine Familie, die Reisen und Hobbies

Doch Bode nimmt die Umstände gelassen. Die Krankheit hat ihn Geduld gelehrt. Zuvor nicht gerade eine seiner Stärken. »Ich bin lieber von Haltestelle zu Haltestelle gesprintet, als lange auf den Bus zu warten«, gesteht er. Heute harrt der ehemals passionierte Rennradler aus, bis Bus Nummer 439 mit einer Verspätung von acht Minuten antuckert. Der Fahrer aussteigt. Zur Tür schlendert. Sich zum Fahrzeugboden bückt. Mürrisch am Griff rumfummelt. Um am Ende die Rampe auf den Gehweg krachen zu lassen. 

Die große Barrierefreiheit wartet hingegen am Phoenix-See. Dortmunds Vorzeige-Naherholungsgebiet hat Bode neuerdings für sich entdeckt. »Nirgends kann ich mich so unbeschwert bewegen«, sagt der Wahl-Ruhrpottler. Denn seit sechs Monaten ist der Technikfan stolzer Besitzer einer neuartigen Datenbrille. Der Clou: Mit dem Hilfsmittel kann Bode ganz allein seinen Rollstuhl steuern. Und zwar mit dem, was ihm noch geblieben ist: seiner Kopfbewegung. Besonders auf ebenen Strecken funktioniert die Steuerung bestens. Sie erleichtert seinen Alltag enorm. Etwa, wenn er im Supermarkt einkauft oder das Museum besucht. 

Bode ergänzt: »Oder auch für ein bisschen Fahrspaß.« Er nickt und der Rollstuhl surrt den breiten Radweg am Ufer entlang. Bode gibt Gas. Das Tacho-Display an der Armlehne springt auf sechs Stundenkilometer. Höchstgeschwindigkeit. Ein Witz für den Ex-Motorradfahrer. Aber Pfleger Philipp muss sich jetzt schon etwas mehr bemühen, hinterher zu trotten. Bode grinst.

Ein wenig fühlt sich das wie damals an. Als er noch mit seiner Familie über die Straßen Europas gedüst ist. Er auf seiner »BMW R1200 GS« im Gespann mit den Kindern und seiner Frau Susanne als Sozia. Was haben seine beiden Töchter gejauchzt, wenn Papa in der Kurve den Beiwagen ein wenig zum Abheben brachte. »Ich werde ihr Lachen nie vergessen«, erzählt Bode. 

»Es war eine harte Vorstellung, als Pflegefall zu enden«

Erasmus Bode, ALS-Patient

Über 300.000 Kilometer ist er Motorrad gefahren – mehr als mit dem Auto. Dabei ist ihm auch zum ersten Mal aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. »Plötzlich konnte ich den Kopf nicht mehr richtig im Fahrtwind halten«, sagt er. Danach sind ihm beim Joggen die Beine weggeknickt. Seine Haltung krümmte sich. Irgendwie mutierte der Körper vom fitten Ausrufezeichen zum seltsam wackeligen Fragezeichen. Antworten darauf wussten die Mediziner anfangs auch nicht. Erst nach einem Jahr Klinik-Odyssee hat der damals 53-Jährige die richtige Diagnose bekommen.

»Es war eine harte Vorstellung, als Pflegefall zu enden«, erklärt er. Unterstützt hat ihn in dieser schweren Zeit auch die Allianz Private Krankenversicherung (APKV). Seit mehr als 30 Jahren ist Bode Kunde. Vor allem der Service der Allianz Pflegebegleiter war für ihn eine enorme Hilfe. Das ist ein Service der APKV, den Vollversicherte exklusiv und kostenlos in Anspruch nehmen können. Ihnen und ihren Angehörigen steht Unterstützung telefonisch zur Verfügung – so lange, bis die Krankheit überstanden oder eine geeignete und langfristige Pflege und Weiterversorgung organisiert ist. »Es gibt ja viele Angebote, um sich besser durch den deutschen Pflegebürokratie-Dschungel zu schlagen«, sagt Erasmus Bode, »aber bei der Allianz wurde ich immer ehrlich und kompetent beraten.«

Am späten Nachmittag trifft das Duo wieder zuhause ein. Bode ist erschöpft. Pfleger Philipp schiebt ihn vor sein Aquarium im Wohnzimmer. Bodes Blick ruht auf den Anemonen. Ihre Nesselarme gleiten in der Strömung hin und her, wiegen ihn fast in den Schlaf. Er murmelt: »In dunklen Momenten haben sie mich schon glücklich gemacht.«

Klicken Sie durch die Bildergalerie: Es sind die kleinen Freuden im Alltag

Doch inzwischen richtet Bode seinen Blick auf die lichten Momente. Es sind die kleinen Dinge im Leben, die ihn mehr denn je erfreuen. Eine Eigenschaft, die seine Frau an ihm am meisten bewundert: »Mein Mann hat oft mehr Kraft als ich.« Selbst vor dem Tod hat Bode keine Angst mehr – obwohl er so lange wie möglich weiterleben will. »Ich habe alles erreicht, was ich mir für mein Leben gewünscht habe«, resümiert er. Dazu zählen seine Familie, seine Freunde, die vielen Reisen und Hobbies. 

Um 20 Uhr kommt Pfleger Martin zum Schichtwechsel. Nach dem Abendessen schiebt er ihn vor den Fernseher. Bode schaut gerne Actionfilme. Am liebsten mit Schauspieler Liam Neeson. Heute läuft »Unknown Identity«. Dabei beschließt die rheinische Frohnatur den Tag mit einer letzten Torheit. Genüsslich lässt er sich mit Schokolade und Gummibärchen füttern. Eigentlich hat er Diabetes. »Aber wozu gibt’s Insulinspritzen?! Das Leben ist doch so kurz.«

Text Sonja Hoogendoorn
Fotos Martin Lamberty 

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