24.03.2023

»Über Nacht war ich für Oma verantwortlich«

Während ihre Freundinnen und Freunde ihre Freizeit genießen, pflegt Julia Sabli ihre demenzkranke Großmutter. Wie schwer diese Verantwortung manchmal auf ihr lastet, wie sie die bürokratischen Hürden beinahe in den Burn-out trieben und warum sie das Schicksal ihrer Oma auf Social Media teilt, erzählt sie im Interview

Zur Person

Julia Sabli (links, Jahrgang 1992) aus Kempten im Allgäu pflegt ihre demenzkranke Oma Rike (Jahrgang 1942) seit gut sechs Jahren zu Hause. Ausschnitte aus ihrem Zusammenleben und ihrer besonderen Beziehung teilt Julia Sabli immer wieder mit ihren 12.500 Followern auf Instagram.

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Demenz auf Instagram: Julia teilt mit ihren 12.500 Followern gerne die schönen Momente mit ihrer Oma – aber auch die schweren

Frau Sabli, wie würden Sie Ihre Großmutter Rike vor ihrer Erkrankung beschreiben? 

Sie hat jahrelang als Leiterin eines Horts für körperbehinderte Kinder gearbeitet. Oma war extrem ordentlich, sie hatte einen regelrechten Putzfimmel. Auch an ihre Strenge erinnere ich mich, und dass sie fremde Personen oder neue Aktivitäten eher gemieden hat. Aber vor allen Dingen war sie sehr hilfsbereit. Wann immer mir etwas fehlte, hat sie mich unterstützt. 

Wann haben Sie gemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt? 

Das war vor etwa sechs Jahren. Ich habe damals als Verkäuferin in einem Skateshop gearbeitet. Oma kam fast jeden Tag vorbei. Manchmal, um mir Essen zu bringen oder einfach nur ein wenig zu plaudern. Als sie an jenem Tag nicht kam, hatte ich gleich ein komisches Bauchgefühl, habe immer wieder versucht sie anzurufen. Aber erst nach acht oder neun Versuchen konnte ich sie erreichen. In diesem Gespräch war sie plötzlich ein ganz anderer Mensch. Offensichtlich verwirrt und orientierungslos. Wir hatten Sorge, es könnte ein Schlaganfall sein und haben den Notruf gewählt. Im Krankenhaus bestätigte sich dann leider unser Verdacht. Nach der Reha war den Ärzten klar, dass sie nicht mehr alleine wohnen kann. Für mich stand aber fest, dass meine Oma auf keinen Fall in ein Heim kommen soll.

Wie haben Sie Ihr Leben danach organisiert?

Von heute auf morgen war ich für meine Oma verantwortlich. Also bin ich bei ihr eingezogen, habe erst mal geschaut, was kann sie noch und was nicht. Ich habe ihr Essen zubereitet, sie gepflegt und sie ins Bett gebracht. Unterstützt wurden wir bei der Medikation vom Pflegeteam der Johanniter-Hilfe, das aber leider immer unregelmäßiger kam. Irgendwann fiel mir auf, dass sie immer mehr vergisst. Ich hatte gleich den Verdacht, dass sie dement sein könnte, und bin mit ihr zu einem Neurologen gegangen, der dies leider bestätigte. Das Ganze ging dann noch zwei oder drei Jahre ganz gut, bis ich an meine Grenzen stieß.

Wie ging es danach weiter?

Über einen privaten Kontakt habe ich einen Platz in einer Einrichtung im Betreuten Wohnen für sie gefunden. Dort lebt Oma in ihrer eigenen Wohnung, nur knapp 250 Meter von meiner entfernt. Werktags, während ich arbeite, ist sie von 9 bis 17 Uhr in einer Tagespflege. Nach meinem Feierabend fahre ich zu ihr, sie bekommt ihr Abendessen und ich mache sie fertig für die Nacht, da Oma das sehr ungern von den Pfleger:innen machen lässt. Meine Mutter hilft, so gut sie kann. Sie ist aber selbst gesundheitlich schwer beeinträchtigt und hat nicht immer die Kraft dafür. Da die Tagespflege am Wochenende nicht angeboten wird, bin ich samstags und sonntags in der Regel rund um die Uhr bei meiner Oma, oder hole sie zu mir. Meine Mutter und ich versuchen uns dabei so oft es geht abzuwechseln. Leider stößt auch dieses Modell inzwischen an seine Grenzen.

»Wenn ich arbeite oder nicht bei ihr sein kann, lebe ich eigentlich in ständiger Angst, dass wieder etwas passiert«

Julia Sabli

Warum klappt das Betreute Wohnen nicht optimal?

Das größte Problem dabei ist der ausgeprägte Bewegungsdrang, der zum Krankheitsbild gehört. Meine Oma büxt immer wieder aus, spaziert ziellos durch die Gegend. Im Betreuten Wohnen kann sie nicht rund um die Uhr bewacht werden. Wir mussten schon mehrmals mit der Polizei nach ihr suchen. Einmal brach sie sich dabei den Oberschenkelhals. Wenn ich arbeite oder nicht bei ihr sein kann, lebe ich eigentlich in ständiger Angst, dass wieder etwas passiert. Zudem benötigen demente Menschen eine ganz spezielle Betreuung und viel Aufmerksamkeit. Die kann ich ihr aber nicht in dem Umfang geben, wie es notwendig wäre. Und die Tagespflege hat nur werktags geöffnet. Das Problem sind also die Wochenenden, an denen ich rund um die Uhr für Oma da bin. Deshalb musste ich jetzt auch leider den Schritt gehen, von dem ich immer gehofft hatte, dass ich ihn nie gehen muss.

Sie meinen, dass Sie sie nun doch in ein Pflegeheim bringen möchten?

Ja, das macht mir ein sehr schlechtes Gewissen. Ich habe immer versucht, meine Oma vor dem Leben im Altenheim zu bewahren. Denn das Prinzip Tagespflege gefällt ihr sehr. Jeden Tag an einen Ort gebracht und wieder abgeholt zu werden, gibt ihr nicht nur Struktur, sondern auch das Gefühl, gebraucht zu werden, irgendwo etwas zu tun zu haben. Das fiele in einer vollstationären Einrichtung sicherlich weg. Zudem lese ich viel über Personalmangel in Altenheimen. Doch ich sehe keinen anderen Ausweg und habe Oma im vorigen Oktober auf die Warteliste für eine Pflegeeinrichtung setzen lassen. Ich hoffe, dass sie vielleicht im Sommer einen Platz bekommt. 

Wie finanzieren Sie die Pflege Ihrer Großmutter?

Wenn sie den vollstationären Platz im Heim bekommt, würde sie weiterhin die sogenannte »Hilfe zur Pflege« erhalten. Das bedeutet, der Staat bekäme die komplette Rente meiner Oma und würde im Gegenzug die Betreuung und Unterbringung zahlen. Ein kleiner Teil des Geldes ginge dann über die Pflegeeinrichtung als eine Art Taschengeld an meine Oma. Die »Hilfe zur Pflege« zahlt bereits jetzt den Pflegedienst im Betreuten Wohnen und die Tagespflege. Die restliche Finanzierung läuft über Omas Rente.

»Ich kann gar nicht zählen, wie viele frustrierende Telefonate ich mit Behörden und Ämtern geführt habe«

Wie schwer war es, diese Hilfsmittel zu beantragen?

Ich kann gar nicht zählen, wie viele frustrierende Telefonate ich mit Behörden und Ämtern geführt habe. Ich behaupte, dass ich mich ganz gut im Internet auskenne. Aber es gibt keine richtige Anleitung für Pflege und Finanzierung, was man bekommen kann, was man beantragen muss, wo es die beste Unterstützung gibt – jedenfalls habe ich so ein Angebot nicht finden können. Viele Dinge sind auch von Bundesland zu Bundesland oder zum Teil von Kommune zu Kommune verschieden. Rezeptbefreiung, Pflegestufenerhöhung, mobile Ergotherapie – all diese Dinge korrekt zu beantragen, lastet neben der Pflege auf meinen Schultern. Und dabei immer der Zweifel: Habe ich wirklich alle Informationen? Habe ich für Oma das Beste getan? Es ist keiner da, der mir hilft. Ich bin ein Mensch, der selten weint. Aber in dieser Phase kam das sehr oft vor. Ich glaube, dass ich kurz vor einem Burn-out stand.

Wie geht es Ihrer Oma heute? 

Laufen kann sie nur noch schlecht. Sie soll einen Rollator nehmen, weigert sich aber oft. Brote schmieren oder Messer und Gabel benutzen geht kaum noch. Was sie selbst essen kann, isst sie meistens mit den Händen. Wie so viele mit diesem Krankheitsbild, hat auch meine Oma sehr starke Stimmungsschwankungen. Eine andere Seite der Demenz ist ihre große Lust, etwas zu erleben. Wenn ich am Wochenende mit ihr zusammen bin, langweilt sie sich schnell. Ich muss sie also zusätzlich zu den klassischen Pflegeaufgaben auch permanent unterhalten. Ich habe seit Jahren nur wenige richtige Wochenenden gehabt, an denen ich mal ausschlafen konnte oder einfach nur Zeit für mich hatte. 

Sie haben eine enge Bindung zu Ihrer Großmutter. Wie ist dieses Band zwischen Ihnen so fest geworden? 

Oma hat im Grunde die Mutterrolle in meinem Leben übernommen. Mein Vater war gewalttätig, daher sind meine Mama und ich vor 26 Jahren von Brandenburg ins Allgäu geflüchtet. Mama und ihr damaliger Lebensgefährte mussten jedoch sehr viel arbeiten. Meine Oma kam dann schnell aus Brandenburg nach und zog mich mit groß. Sie kochte das Mittagessen für mich, und gerade in meiner Teenagerzeit war sie oft für mich da. Da der Kontakt zum Rest der Familie vor einigen Jahren in die Brüche ging, war ich für sie zudem das einzige Enkelkind, hatte dadurch sicher auch immer schon eine besondere Rolle in ihrem Leben.

Hat sich neben den vielen Problemen auch etwas zum Guten verändert?

Seit ihrer Krankheit habe ich das Gefühl, dass sie mehr lacht, viel offener gegenüber anderen Menschen ist und aufgeschlossen gegenüber neuen Dingen. War sie vorher in ihrer Persönlichkeit ein bisschen festgefahren, so hat sie jetzt etwas mehr Freude in ihr Leben gelassen. So gesehen hat die Krankheit bei all den Problemen und bei all der Trauer auch etwas Gutes. Da ich sie aber ansonsten jeden Tag sehe, fallen mir optische oder physische Veränderungen oft erst auf, wenn ich mir unsere Fotos oder Videos anschaue.

Diese Fotos und Videos posten Sie immer mal wieder auf Ihrem Instagram-Kanal. Eine Plattform, auf der viele Menschen nur die schönen Dinge des Lebens teilen. Wie kamen Sie auf die Idee?

Da ich auf Instagram Aspekte meines Lebens veröffentliche und meine Oma immer ein großer Teil meines Lebens ist, war für mich klar, dass auch sie in meinen Fotos eine Rolle spielen soll. Als es ihr dann immer schlechter ging, zweifelte ich, ob das richtig ist. Aber ich habe so viele positive Nachrichten von Menschen bekommen, die das berührt, was meine Oma und ich miteinander erleben. Viele sind dankbar, dass ich auf Instagram nicht nur die guten Seiten des Lebens zeige. Demenz oder das Altern generell sind Themen, die in den Sozialen Medien noch zu kurz kommen, aber für viele zur Lebensrealität gehören.

Ich habe das Gefühl, alte Menschen werden in unserer Gesellschaft sehr schnell aufs Abstellgleis geschoben.

Was bedeuten Ihnen diese Reaktionen?

Zu lesen, dass ich nicht alleine bin, dass meine Oma auch andere Menschen berührt und dass ich dem ganzen Thema eine Plattform geben kann – das alles gibt mir Kraft. Ich habe das Gefühl, alte Menschen werden in unserer Gesellschaft sehr schnell aufs Abstellgleis geschoben. Aber natürlich gehören sie genauso dazu wie junge und gesunde Menschen. Und Instagram ist vielleicht gerade deshalb ein guter Weg, dieses Bewusstsein zu schärfen.

Was wünschen Sie Ihrer Oma für ihre Zukunft?

Demenzpatientinnen und -patienten können mit der richtigen Betreuung auch im fortgeschrittenen Krankheitsstadium viele schöne Momente erleben. Dass das im Moment nicht immer möglich ist, macht mich traurig. Deshalb hoffe ich, dass meine Oma im Pflegeheim bessere Erfahrungen machen kann. Manchmal reichen ihr aber auch die kleinen Dinge. Wenn ich ihr am Wochenende »Mr. Bean« einschalte, lacht sie während der ganzen Folge in einem Stück durch. Ich wünsche meiner Oma, dass sie noch viele Stunden so herzhaft lachen darf.

Text Sebastian Schellschmidt
Fotos Lisa Rühwald, privat

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