25.01.2023

Mehr als eine Berührung

Zur Person 

Maria Dünninger kennt die Zeit von Einsamkeit und fehlendem Körperkontakt. Zu Beginn des Jahres hat sie sich auf neues Terrain gewagt und an einem Kuschelabend teilgenommen. 

Mehr als 40 Prozent der jungen Menschen in Deutschland leiden unter Einsamkeit. Auch unsere Autorin kennt das Gefühl. Zu Beginn des neuen Jahres probiert sie etwas Neues aus: Sie besucht einen Kuschelabend

Und dann halten wir uns an den Händen. Ich habe die Frau mit braunen Haaren vor wenigen Minuten zum ersten Mal gesehen, kaum ein Wort mit ihr gewechselt, und doch fühle ich mich wohl bei ihrer Berührung. Ich bekomme Lust, sie zu umarmen. Wenige Minuten später habe ich nicht nur sie, sondern viele andere fremde Menschen im Raum in den Arm genommen. Wie konnte das passieren? 

Freitagabend in München, irgendwann im Januar: Ich stehe vor einer Tanzschule, wo gleich ein Kuschelabend beginnt. Gebucht habe ich die Veranstaltung übers Internet. Aus Neugier. Und doch bin ich auch unsicher, mein Herz schlägt schnell. Wie wird es sein, unbekannte Menschen zu berühren? Möchte ich, dass mich jemand umarmt, der mein Vater sein könnte? Kann ich einfach wieder gehen, wenn es mir nicht gefällt? Ich atme tief ein und öffne die Tür.

Zum ersten Mal einsam fühlte ich mich nach meinem Umzug in eine andere Stadt. Eine neue Arbeitsstelle führte mich von Franken nach Rosenheim. Aus einem Leben mit Familie und Freunden geriet ich in einen Alltag, in dem mein soziales Netzwerk zu Beginn nur aus Kolleginnen und Kollegen bestand. Neue Kontakte zu knüpfen, fiel mir schwer.

Das ist etwa sechs Jahre her. Seitdem konnte ich Freundschaften schließen und viele tolle Erfahrungen sammeln. Dennoch fühle ich mich auch heute noch manchmal einsam. Was bedeutet das für mich? Was macht fehlender Körperkontakt mit mir?

»Nach einem Wohnortwechsel unter Einsamkeit zu leiden, ist keine Seltenheit«, sagt Gabriele Bringer. »Vor allem in der Großstadt muss man selbst auf andere zugehen und Initiative zeigen. Das fällt vielen Menschen schwer.« Die Diplom-Psychologin ist Expertin für Einsamkeit und arbeitet damit in einem Bereich, der vor allem seit der Pandemie ein immer größeres Problem unserer Gesellschaft wird.

Blickkontakt: Augen sagen mehr als Worte

Die Pandemie verstärkt das Problem

Seit Corona hat sich die Zahl der Menschen verdoppelt, die sich einsam fühlen: Laut sozio-ökonomischem Panel aus dem Jahr 2021 geben 42 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen an, einsam zu sein. »Das betrifft vor allem Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl. Sie haben Angst vor Zurückweisung und meiden Kontakte«, sagt Bringer. »Das wird für viele zum Teufelskreis: Je einsamer sie sind, desto schwerer fällt es den Menschen, auf andere zuzugehen. Viele Betroffene müssen das erst wieder lernen.«

Wissenschaftler:innen vermuten, dass durch fehlendes Kuscheln und menschliche Berührungen auf Dauer körperliche und seelische Krankheiten entstehen können. Auch Politiker:innen kennen die Folgen von Einsamkeit und suchen nach Lösungen. Großbritannien rief beispielsweise 2018 das Ministerium für Einsamkeit ins Leben. Auch Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek plant Informationsangebote und Maßnahmen gegen Einsamkeit, wie Treffpunkte für ältere Menschen.

Ein Treffpunkt für ältere Menschen ist im Moment noch kein verlockendes Angebot für mich. Ich suche andere Möglichkeiten, um mehr über mich, die Einsamkeit und die Wirkung von Körperkontakt zu erfahren. Als ich das Thema google, stoße ich auf sogenannte Kuschelabende. Auf der Homepage eines Veranstalters lese ich, worum es dabei geht: Menschen jeden Alters treffen sich, um zu kuscheln – unter Anleitung von Körper- bzw. Berührungstherapeut:innen. Zu zweit, zu dritt oder in einer kleineren Gruppe auf dem Boden liegend. Klingt intim. Ob ich mich dabei entspannen kann? Die Idee, lese ich, kommt aus Amerika. Dort trafen sich wohl 2004 erstmals Menschen zu einer Kuschelparty in New York. Ein Jahr später kuschelte man auch in Deutschland, zunächst in Berlin. Ich bin neugierig und melde mich für einen Abend in München an, wo ich heute lebe.

Beim Tanzen löst sich meine Anspannung

Freitagabend, 19:00 Uhr: Nachdem ich Mantel, Schuhe und Tasche in der Garderobe abgelegt habe, betrete ich einen Tanzraum. Wo sonst Paare im Foxtrott übers Parkett wirbeln, liegen Männer und Frauen auf roten Matten. Lichterketten machen eine angenehme Atmosphäre.

Zur Person 

Professor Dr. med. Walter Möbius war 24 Jahre lang Chefarzt der Inneren Abteilung im Bonner Johanniter-Krankenhaus. Engagiert sich im Ruhestand für ein besseres Miteinander in Arztpraxen und Krankenhäusern. Der Bonner schrieb zudem mehrere Bücher über die Menschlichkeit in der Medizin und die Einsamkeit.

Angelika Kiefmann sitzt mit ihrem Hund Inka vor einer blauen Leinwand.


Anfangs stehe ich noch etwas verloren am Rand. Dann macht der Kursleiter, ein Mann mit Brille und angegrauten Haaren, Popmusik an und fordert uns auf, durch den Raum zu tanzen. Die Bewegung lockert meine Muskeln und meine Anspannung. Auch die Stimmung der 29 anderen Teilnehmer löst sich. Manche von ihnen kommen regelmäßig, einige sind – wie ich – heute zum ersten Mal da.

Im nächsten Schritt fordert der Kursleiter uns auf, langsam durch den Raum zu gehen und dabei mit ausschließlich einer Person Blickkontakt aufzunehmen. Mein Herz schlägt wieder etwas schneller, doch dann fühlt sich die Situation überraschend natürlich an. Rasch finden meine Augen die Augen einer anderen Frau, die ich kurz darauf umarmen werde. Ihr Lächeln fängt mich ein – und ich merke: So langsam befinde ich mich auf Kuschelkurs.

Ohne Berührungen werden wir krank

Obwohl ich inzwischen seit sechs Jahren in Oberbayern und seit einem in München wohne und mir dort einen Freundeskreis aufbauen konnte, erlebte ich an einem Abend im vergangenen November, wie unvermittelt mich das Gefühl von Einsamkeit auch heute noch treffen kann. Ich war mit zwei Freundinnen in einer Bar. Wir redeten, lachten, tranken. Gut gelaunt, fast euphorisch, kam ich kurz vor Mitternacht nach Hause. Doch als die Tür ins Schloss fiel, war da mit einem Schlag Leere. Gerade noch unter Menschen, saß ich alleine in meiner stillen Wohnung. Niemand war da, dem ich von meinem schönen Abend erzählen konnte. Niemand, mit dem ich unter der Decke kuscheln konnte.

Was mein Gefühl in dieser Novembernacht auslöst, ist für den Mediziner Walter Möbius ganz klar. »Fehlender Körperkontakt ist eng verknüpft mit dem Gefühl von Einsamkeit. Bekommt die Haut keine Berührung, wird auch kein Oxytocin ausgeschüttet, Stresshormone im Körper können nicht abgebaut werden«, erklärt der Autor des Buches »7 Wege aus der Einsamkeit und zu einem neuen Miteinander«. »Wird der Stress zu Dauerstress, kann das zu Herzerkrankungen, Schlaganfällen, Krebserkrankungen bis hin zum Tod führen. Auch die Psyche leidet.«

Fingerspitzengefühl: Kleine und große Berührungen tun dem Körper gut

Wissenschaftler in Hongkong fanden heraus, dass jeder Mensch an einem Tag im Schnitt 12,5 Personen trifft und mit ihnen ein Drittel des Tages verbringt. Aber: »Alleinsein und Einsamkeit sind nicht das Gleiche«, sagt Psychologin Bringer. Alleinsein könne auch positiv sein und bedeuten, dass man bewusst Raum und Zeit für sich in Anspruch nimmt. Wenn etwa Stress zu stark wird oder zu viele Reize auf uns einprasseln und wir mit uns selbst ins Reine kommen wollen. »Wenn mein Wunsch nach sozialen Kontakten aber nicht erfüllt wird, leide ich  unter Einsamkeit«, sagt die Expertin. In solchen Momenten sei es besonders wichtig, etwas für sich zu tun, sich abzulenken und sich bewusst zu machen, dass dieses Gefühl irgendwann wieder vergeht.

Je länger der Kuschelabend dauert, desto mehr spüre ich, wie gut mir das Erlebnis tut. Die Gruppe ist für mich ein geschützter Raum, in dem ich schnell das Gefühl bekomme, so sein zu können, wie ich bin. Die Übungen helfen mir, mich mit meinen Bedürfnissen und Emotionen auseinanderzusetzen. Besonders gut funktioniert dies während einer Übung, bei der ich mein Gegenüber mit verbundenen Augen berühren soll. Kategorien wie Alter, Geschlecht, Attraktivität sind unbedeutend, und ich kann mich ganz in das Berühren und Wahrnehmen fallen lassen. Auch ich werde berührt und nehme dies als etwas ganz Natürliches wahr. Ich fühle mich frei.

Der Kuschelkurs erfüllt ein Grundbedürfnis

Dass solche Angebote Menschen dabei helfen können, ihre Bedürfnisse zu erkennen und sogar zu erfüllen, bestätigt auch Walter Möbius. »Bei so einem Kuschelabend treffen sich Menschen, die ein gemeinsames Bedürfnis haben. Sie treffen dort auf großes Verständnis für ihr Problem«, sagt der Mediziner. Und auch, wenn nicht automatisch jede Person in einem Kuschelseminar einsam ist, eint sie doch das gemeinsame Ziel und das tiefe Verständnis füreinander. 

Außerhalb von solchen Abenden fehlt es daran oft. Viele Menschen, die sich einsam fühlen, kämpfen mit Stigmatisierung. Einsamkeit wird oft als Schwäche oder Unzulänglichkeit bewertet. »Wenn ein einsamer Mensch, der Kontakt sucht, auf andere Menschen zugeht und sagt >Ich bin einsam<, wird das Gespräch recht schnell vorbei sein«, bestätigt Psychologin Bringer. »So etwas kommt bei den wenigsten gut an. Sie werden eher Abstand nehmen, weil sie Angst haben, ein Anhängsel vor sich sitzen zu haben.« 

Im Seminar spielt das keine Rolle. Wir alle sitzen im selben Boot, besser gesagt auf derselben Matte. Ohne Druck und Zwang kann ich für mich entscheiden, wie lange und intensiv ich jemandem nah sein möchte und wie sehr ich von anderen berührt werden will. Es fällt mir leicht, den Kopf auszuschalten und mich auf die Situation einzulassen. Ich schließe die Augen. Es tut gut, unter Menschen zu sein und die Energie im Raum zu spüren. 

Für viele (junge) Menschen ist vor allem die Online-Partnersuche ein Schritt aus der Einsamkeit. Auch ich habe hin und wieder versucht, mit Dating-Apps wie Tinder oder Bumble eine Lücke zu füllen. Mit mäßigem Erfolg. »Online-Kontakte sind eine schöne Sache. Aber nicht, um der Einsamkeit zu entfliehen«, sagt Psychologin Gabriele Bringer. »Wenn Sie zum Beispiel mit jemandem im gleichen Zimmer sitzen, wissen Sie, dass derjenige da ist und haben ein Gefühl von Verbundenheit, auch wenn währenddessen vielleicht gar kein Wort fällt. Das funktioniert online nicht«, erklärt die Psychologin. 

Zur Person

Gabriele Bringer ist Diplom-Psychologin und seit 1991 selbstständige Trainerin, Beraterin und Seminarleiterin im Bereich Wirtschaftspsychologie. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Stress und Burn-out, Kommunikation und betriebliches Gesundheitsmanagement. Außerdem ist sie Kursleiterin für Stressbewältigungsseminare und Notfallpsychologin.

Einsamkeit betrifft viele Menschen

Warum ich trotz anfänglicher Sorgen so schnell positive Gefühle wahrnehme, erklärt Mediziner Möbius: »Körpersprache, Gesichtsausdruck, Fühlen und Mitfühlen sind hier ganz wichtig.« Am Ende des Abends habe ich erfahren, wie wichtig körperliche Nähe für ein ausgeglichenes und zufriedenes Leben ist. Es tat gut, meinen Oxytocin-Haushalt aufzufüllen und all diese Wärme zu spüren. Ich bin überrascht, wie gut ich mich fallen lassen konnte und wie sehr ich die intensive Berührung genoss. Ein heilsames Miteinander.

Und der Abend bringt mir eine weitere wertvolle Erkenntnis. Ich habe erkannt: Einsamkeit betrifft viele Menschen. Ich bin damit nicht allein – und es gibt Wege, die aus der Einsamkeit führen. Mediziner Möbius stimmt zu: »Wichtig ist es, ein Netzwerk aufzubauen, in dem man sich wohlfühlt und gut integriert ist. Man sollte seinen Interessen nachgehen und Gruppen und Kreisen beitreten. Eine gute Möglichkeit ist es, ehrenamtlich tätig zu sein oder gemeinsam Musik zu machen.« Denn: Am wohlsten fühlen sich Menschen in bester Gesellschaft.

Stressreduzierer: Umarmungen sorgen für ein entspanntes Körpergefühl

Text    Maria Dünninger
Fotos  Niklas Niessner, Erik Mosoni, privat 

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