Wer gut vorgesorgt hat, kann den Ruhestand entspannt genießen – und sich Dingen widmen, für die vorher keine Zeit war. Zum Beispiel eine Doktorarbeit schreiben. Fünf Senioren erzählen
»Ein ganz besonderer Moment in meinem Leben«
Name: Magdalena Krämer
Jahrgang: 1949
Wohnort: Ratingen
Lieblingsort zum Arbeiten: Lesen kann ich überall, viel Zeit habe ich in der Bahn verbracht
Ehemaliger Beruf: Bankkauffrau (Ausbildung 1968)
Uni: Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Dissertationsthema: Einfache Frauen in der schottischen Literatur des Mittelalters
Studiengang: Mittelalterstudien, Anglistik und Keltologie
Tipp für Erstsemester: Eigeninitiative wird belohnt
Was habe ich an der Uni gelernt: Nicht von äußerlichen Erscheinungen auf das Innere einer Person schließen
Auf meine Doktorarbeit stoße ich an mit: Erst mal einem Glas Sekt und mal gucken, was dann noch geht
Vor der Uhrzeit kriegt man mich nicht aus dem Bett: Ich stehe jeden Tag um 5:30 Uhr auf – das ist aus dem Berufsleben geblieben
Altersvorsorge: Für ein sorgenfreies Altwerden setze ich auf Wohneigentum – und ein kleines bisschen habe ich in Aktien angelegt
»Meine Doktorarbeit ist ein lang gehegter Traum von mir. 2011 habe ich, nach einem langen Berufsleben als Bankangestellte, angefangen zu studieren: Anglistik und Keltologie, zunächst mit dem Ziel eines Bachelorabschlusses. Ich wollte etwas aus meinem Abitur machen, das ich mit Ende 20 auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt habe.
Auf das Fachgebiet kam ich durch zahlreiche Reisen: Ich fuhr während meines Berufslebens häufig nach England. Dort fand ich Freunde und später auch einen Partner. Mein Interesse an Land und Menschen führte dazu, dass ich bald die Sprache lernte. Als mein Partner 2011 starb, musste ich die Leere füllen. So kehrte ich zurück zu dem Plan, den ich nach meinem Abitur einst hatte verschieben müssen. Nach ausführlicher Beratung schrieb ich mich an der Universität Bonn ein. Nach dem Bachelor absolvierte ich einen Master in Mittelalterstudien.
Trotz meines Alters habe ich mich an der Uni nie fremd gefühlt, Professorinnen und Professoren und Mitstudierende haben mich ganz selbstverständlich aufgenommen. Anfangs war ich etwas besorgt, ob ich den Anforderungen eines Studiums gewachsen sein würde, habe aber schnell gemerkt, dass meine Schulausbildung und langjährige Berufstätigkeit ein gutes Fundament bilden. Nach sehr guten Abschlüssen des Bachelors und Masters hat mich die Professorin für Mittelalterstudien im Bereich Anglistik angesprochen, ob ich gern noch weitermachen möchte. Es war ein ganz besonderer Moment in meinem Leben, als ich zur Promotion zugelassen wurde. Inzwischen arbeite ich im vierten Jahr an einer Arbeit, die sich mit der einfachen Frau in der Literatur des schottischen Mittelalters befasst.
Dass ich nicht so gut vorankomme, wie ich es mir wünsche, liegt daran, dass ich mich allein um meine inzwischen 102-jährige Mutter kümmere. Altenpflege verbunden mit Haushalt und Garten – das kostet viel Zeit, und für meine Dissertation bleibt nur wenig übrig. Deshalb kam mir die virtuelle Zusammenarbeit während der Coronazeit sehr zugute: Zum Beispiel fand in dieser Zeit ein Kongress zum Thema ›Schottische Literatur des Mittelalters‹ in den USA statt, zu dem Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt eingeladen waren. Persönlich hätte ich nie teilnehmen können, denn ich kann nur noch dann das Haus verlassen, wenn ich eine Pflegerin für meine Mutter finde. Nun aber konnte ich online Fachvorträge hören und Fragen stellen.
Für meine Dissertation arbeite ich jetzt zu Hause, natürlich immer in Absprache mit meiner Professorin. Ich komme nur noch selten nach Bonn, und wenn, dann findet man mich in einer Bibliothek. Was nach meiner Promotion kommt? Wer kann mit 72 Jahren wissen, was die Zukunft bringt? Vielleicht bleibe ich gesund genug, um meinen anderen Traum zu erfüllen: eine Wanderung von Ratingen nach Santiago de Compostela.«
»Ich bin alt und stehe zu meiner Meinung«
Name: Lutz Wettwer
Jahrgang: 1941
Wohnort: Preetz bei Kiel
Ehemaliger Beruf: Gynäkologe
Uni: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Lieblingsort zum Lernen: Mein Arbeitszimmer oder die Kieler Unibibliothek
Dissertationsthema: Das frühe Krankenhaus im Spannungsfeld von Caritas und Macht
Studiengang: Hauptfach: Alte Geschichte, Nebenfach: Theologie und Islamwissenschaften
Tipp für Erstsemester: Studiert etwas, worauf ihr wirklich Lust habt, bei Interesse fällt Fleiß viel einfacher
Auf meine Doktorarbeit stoße ich an: Mit einem Glas guten Wein – mein Motto ist: Halb so viel, doppelt so gut
Vor der Uhrzeit kriegt man mich nicht aus dem Bett: 6:30 Uhr, als ehemaliger Arzt komme ich nicht zu spät
Altersvorsorge: Mit meiner Lebens- und Pflegeversicherung bin ich gut abgesichert
»Nirgendwo wird man auf so hohem Niveau für so wenig Geld unterhalten wie an der Uni. Die Entscheidung, als Ruheständler noch einmal zu studieren, fiel mir sehr leicht. Mein Berufsleben habe ich als Gynäkologe in einem Krankenhaus verbracht, Geschichte war aber immer meine Leidenschaft. In der Schule damals hatten wir einen tollen Geschichtslehrer. Wir haben ihn immer gebeten, in der Pause weiter zu unterrichten. Als ich dann im Ruhestand war, habe ich aus dem gebliebenen Interesse angefangen, noch mal zu studieren. Zuerst nur Alte Geschichte, Mittlere und Neue Geschichte. Aber ich habe schnell gemerkt, dass man, um Geschichte richtig zu verstehen, mehr Ahnung von den monotheistischen Weltreligionen braucht. Also habe ich mich noch für Theologie und Islamwissenschaften eingeschrieben, und es hat mir eine Menge Spaß gemacht.
Nicht nur die Inhalte haben mir gefallen, ich wurde auch wirklich nett von den Mitstudierenden aufgenommen. Am Anfang hatte ich schon ein paar Bedenken: Wie sehen die jungen Leute einen Alten wie mich, der das Ganze nur aus Lust und Leidenschaft macht? Aber sie haben direkt zu mir gesagt: Wir haben kein Problem mit dir, wir stehen das gemeinsam durch, wir lernen zusammen. Ich war durchaus akzeptiert und beliebt, meinen Studienkollegen habe ich zum Beispiel Skat spielen beigebracht. Mit dem Gedanken eines zweiten Doktors hatte ich immer gespielt, aber ich hatte Angst davor, mich noch mal für so eine lange Zeit festzulegen. Mein Professor hat mir die Dissertation angeboten, weil er meine zweiteilige Perspektive auf das Thema Krankenhaus so spannend fand: Geschichtsstudent und langjähriger Arzt.
Als ich mit der Doktorarbeit anfing, war ich 74, und dann habe ich noch mal fünf Jahre daran gearbeitet. Ich habe mir auch ein bisschen Kritik gefallen lassen müssen. Manchmal bin ich mit der Kirche nicht ganz so pfleglich umgegangen. Im frühen Krankenhaus hatte die christliche Nächstenliebe schnell ihre Grenze erreicht. Das ist mir nicht immer zum Positiven ausgelegt worden, aber ich habe gesagt: Ich bin alt, und ich stehe zu meiner Meinung. Das Studium habe ich sehr genossen, mit der Dissertation hatte ich schon an einigen Stellen zu kämpfen. Zum Glück hat meine Frau mich die ganze Zeit ertragen und unterstützt. So habe ich gar nicht ans Aufgeben denken können. Sie hat mich immer daran erinnert: ›Kneifen gilt nicht!‹«
»Die Doktorarbeit habe ich durchgezogen«
Name: Ingrid Glatz
Jahrgang: 1953
Wohnort: Bern
Ehemaliger Beruf: Pfarrerin
Uni: Universität Zürich/Ludwig-Maximilians-Universität München
Studiengang: Religionswissenschaft
Dissertationsthema: Menschenbilder in István Szabós Filmwerk. Religiöse Motive und anthropologische Deutungen
Tipp für Erstsemester: Nicht den Überblick verlieren und Gleichgesinnte suchen, andere Leute haben ähnliche Probleme
In die Mensa lockt mich: Meistens indisches Essen.
Vor der Uhrzeit kriegt man mich nicht aus dem Bett: Ich bin keine Frühaufsteherin, meistens stehe ich zwischen 7 und 8 Uhr auf
So sorge ich vor: Durch die Pensionskasse und meine Eigentumswohnung, in der ich günstig und schön wohne
»Es kam ein Punkt, an dem ich mich fragen musste: Will ich die Dissertation aufgeben oder ziehe ich sie durch? Ich habe mich fürs Durchziehen entschieden. Im Frühjahr 2022, ein knappes Jahr später, schloss ich meine Doktorarbeit ab. Ich begann im Jahr 2001, Theologie zu studieren. Einige Jahre später fing ich in meinem Beruf als Pfarrerin im Kanton Bern an. 2018 ging ich in den Ruhestand. Einige Jahre zuvor hatte ich ein Sabbatical eingelegt, in der Zeit musste ich eine Forschungsarbeit schreiben, so ist es in der Schweiz. Mir kam der Gedanke: Wenn ich schon eine Arbeit schreibe, warum mache ich dann nicht einfach eine Doktorarbeit daraus?
Die Arbeit habe ich nach meiner Auszeit weitergeschrieben. Es war gar nicht so einfach neben dem Beruf. Die Themenwahl fiel mir hingegen leicht. Ich interessiere mich sehr für Filme – und natürlich Theologie. Die beiden Bereiche wollte ich verbinden. Ungarns Filmgeschichte fand ich schon immer spannend, ich stieß damals auf die Filme von István Szabós, einem oscargekrönten ungarischen Filmregisseur. Ich habe ihn angeschrieben und gefragt, ob er nicht Lust hat, mit mir über seine Filmen zu diskutieren. In einem Gespräch mit mir sagte er, dass jeder Mensch Religion brauche.
In meiner Doktorarbeit untersuchte ich, wie er das Bedürfnis des Menschen nach Religion in seinen Filmen vermittelt. Begonnen habe ich das Studium in Zürich, aber als meine Professorin nach München ging, bin ich ihr mit meiner Dissertation dorthin gefolgt. Natürlich nicht so ganz, gewohnt habe ich immer in der Schweiz. Corona kam mir sehr entgegen. Etliche Doktorandenseminare fand in der Zeit online statt, so konnte ich regelmäßig teilnehmen. Auch wenn in dem Seminar hauptsächlich junge Männer und Frauen waren, habe ich mich nie ausgeschlossen gefühlt. Die Arbeit ist inzwischen abgeschlossen, das Thema begleitet mich allerdings weiter. Nächstes Jahr organisiert die Filmorganisation, in der ich Mitglied bin, ein Seminar in Budapest. Da werde ich voraussichtlich einen Vortrag über meine Dissertation halten. Ich freue mich aber auch, Neues anzupacken. Jetzt im Herbst werde ich mit meinem Partner eine Weile durch Südamerika reisen. Danach wollen wir gerne mehr mit unserem VW-Bus unterwegs sein – jetzt im Ruhestand bin ich ja spontan.«
»Lies den Vertrag, dann weißt du, was du liefern musst«
Name: Helmut Schmidt
Jahrgang: 1942
Wohnort: München
Ehemaliger Beruf: Vertragsanwalt
Uni: Universität Bayreuth
Studiengänge: Betriebswirtschaftslehre und Jura
Dissertationsthema: Demokratie in Subsahara-Afrika: Eine Analyse ihrer Entstehung und Wirkung auf Recht und Gesellschaft
Tipp für Erstsemester: Überblick verschaffen, hinsetzen und das Studium wie einen Job machen. Nur so bleibt man wirklich bei der Sache
In die Mensa lockt mich: Die Mensa ist mein absoluter Geheimtipp, gerade vegetarisches Essen und Gerichte mit Fisch finde ich toll
So habe ich für das Alter vorgesorgt: Abgesichert bin ich über die BayerischeVersicherungskammer und die staatliche Rentenkasse. Da habe ich mein Berufsleben lang eingezahlt
»Eines Tages rief mich mein Notar an und fragte: ›Herr Schmidt, wollen Sie Konsul werden?‹ ›Von welchem Land denn?‹, fragte ich ihn. ›Mali.‹ Ich holte meinen Atlas aus dem Regal und schlug nach, wo genau Mali liegt. ›Ja gut‹, sagte ich, ›kann ich schon machen.‹ So erwachte mein Interesse an Afrika. Ich habe 1961 begonnen, Betriebswirtschaftslehre an der Uni in München zu studieren. Als ich mit Anfang 20 fertig war, wollte ich gerne noch etwas weiterlernen und hing ein Jurastudium an. In dem Fach schrieb ich damals auch meine erste Promotion. Danach war ich mein ganzes Berufsleben lang Vertragsjurist. Seit 2008 bin ich Konsul von Mali. BWL hat aber meinen Hinterkopf nie ganz verlassen, immer wieder mal habe ich an eine zweite Doktorarbeit gedacht. Die Uni Bayreuth ist eine der wenigen deutschen Universitäten mit einem Afrika-Schwerpunkt. Also habe ich dort angefragt: Könnte ich nochmals bei Ihnen promovieren? ›Klar‹, haben sie gesagt, und so war es besiegelt.
Mein Thema habe ich im Zug auf dem Weg nach Bayreuth zum ersten Gespräch mit meinem Doktorvater formuliert. In Afrika herrscht überwiegend Autokratie, nur sehr wenige Staaten sind demokratisch. Das fand ich spannend, und bei dem Thema ist es geblieben. Ab 2019 habe ich jeden Tag acht Stunden gearbeitet und recherchiert. Danach hatte ich für das Schreiben noch genau ein Jahr Zeit, die Deadline war der 31. Dezember 2021. Ich habe gerechnet: Wenn die Arbeit ungefähr 300 Seiten haben soll, muss ich eine Seite am Tag schreiben. Natürlich hätte ich auch verlängern können, aber das kam für mich nicht infrage. Mein ganzes Berufsleben bewegte sich darum, Fristen einzuhalten. Lies den Vertrag, dann weißt du, was du liefern musst – so habe ich es auch bei der Doktorarbeit gesehen.
Das Schreiben fiel mir sehr leicht, als Anwalt bin ich darin geübt, man lebt ja von der deutschen Sprache. Meine Doktorarbeit ist genau in die Coronazeit gefallen, und ohne die Dissertation hätte ich mich da ordentlich gelangweilt. Zwei Tage vor meinem 80. Geburtstag bestand ich die mündliche Prüfung; die besten Geschenke macht man sich bekanntlich selbst. Die Doktorarbeit war eine persönliche Herausforderung für mich. Im Alter nur spazieren zu gehen, ist mir zu langweilig.«
»Als Student war mein Leben als Fregattenkapitän vorbei«
Name: Bernd Lehmann
Jahrgang: 1943
Wohnort: Weilheim in Oberbayern
Uni: Ludwig-Maximilians-Universität
Ehemaliger Beruf: Marineoffizier
Studiengang: Geschichte und Politikwissenschaft
Dissertationsthema: Das Prisenrecht der Seemächte in den Kriegen 1672 bis 1713: Veröffentlichungen und ihre Umsetzung in Frankreich, England und den Niederlanden
Lieblingsort zum Arbeiten: Bibliotheken des Historicums, der Bayrischen Staatsbibliothek und mein Arbeitszimmer
Auf meine Doktorarbeit stoße ich an: Mit Sekt oder einem Gin Tonic
So sorge ich vor: Mit der Allianz Worldwide Care und über die Bayerische Beamtenkrankenkasse
»Meine Doktorarbeit habe ich im Juni 2022 eingereicht. Das Angebot, zu promovieren, ist einige Jahre zuvor völlig überraschend gekommen. Mein Berufsleben habe ich 1963 als Offiziersanwärter begonnen. Nach vielen Jahren bei der Marine hatte ich das Glück, in Monterey, Kalifornien, an der Universität der US Navy studieren zu dürfen. Die Jahre danach habe ich bis zu meiner Pensionierung erneut bei der Seefahrt und an Land verbracht. Zum Beispiel war ich bei der NATO in Oslo/Norwegen und Den Haag/Niederlande. Als ich nach meinen vielen Jahren im Beruf nach München zog, reizte es mich, nochmals ein Bachelorstudium in Geschichte und Politikwissenschaft zu verfolgen. Ich machte dann auch noch den Master, danach schlug mein Professor mir vor, eine Dissertation anzustreben. Nach kurzer Bedenkzeit sagte ich zu – die Doktorarbeit hatte mich gefangen.
Das Leben als Student in Deutschland bot mir eine völlig neue Perspektive. In Kalifornien war ich unter Gleichaltrigen mit eigener Familie. An der Uni München in meinem Studiengang war ich ein normaler Studierender wie alle anderen – nur eben ein wenig älter. Mit den gleichen Kursen und Seminaren, den gleichen Herausforderungen, jedoch unterschiedlichen Sorgen des täglichen Lebens. Ich war mit meinen Mitstudierenden des Öfteren beim Lunch oder beim Kaffee im Univiertel. Bei Exkursionen, zum Beispiel nach Weimar oder nach Brixen, wurden mir Sonderunterbringungen angeboten, die ich aber nie in Anspruch genommen hatte. Warum sollte ich auch? Aus meinem Beruf kannte ich das: Auf der Gorch Fock waren wir mit 20 Mann in einem Deck untergebracht, mit Hängematte als einzige Schlafgelegenheit. Also kein Problem für mich. Mein früheres Leben als Fregattenkapitän – das war vorbei. Ich war einfach Student.«
Protokolle Selena Gruner
Fotos Maurice Kohl, Julia Knop, Raffael Waldner, Basti Arlt, Manuel Nieberle